: 300 Jahre erstunken und erlogen
Kaiser Karl den Großen hat es nie gegeben, behaupten zwei Historiker ■ Von Marion Wigand
In fünf Jahren ist es soweit. Böller krachen, Sektkorken knallen. Die Menschheit feiert die Sause ins Jahr 2000. Ohne uns, sagen schon jetzt zwei Wissenschaftler. Sie wollen an der Feier nicht teilnehmen. Denn ihrer These zufolge leben wir nicht im Jahr 1995, sondern 1695. „300 Jahre gab es in Wirklichkeit nie“, behauptet der promovierte Germanist und Privatgelehrte Heribert Illig aus München.
Zusammen mit seinem Kollegen Hans-Ulrich Niemitz, Professor für Technikgeschichte an der Hochschule Leipzig, plädiert er für eine Revision der abendländischen Geschichtsschreibung. Das frühe Mittelalter, ungefähr zwischen den Jahren 600 und 900, sei ein reines Phantasieprodukt.
Eine gute Portion Forscherglück führte Niemitz und Illig vor fünf Jahren auf die heiße Spur der Phantomzeit. Den ersten Hinweis gab eine eher unscheinbare Begebenheit im 16. Jahrhundert: Papst Gregor XIII. hatte das Datum korrigiert, das dem Stand der Sterne hinterherhinkte. Cäsars julianischer Kalender zählte zuviel Schalttage im Laufe der Jahre. Illig überprüfte die päpstliche Korrektur und fand: Das Kirchenoberhaupt hätte dreizehn statt zehn Tage überspringen müssen. Die Schlußfolgerung: Gregor XIII. regierte nicht um 1580, sondern dreihundert Jahre früher. Auch die gängige Geschichtswissenschaft hat bei den sogenannten dunklen Jahrhunderten des frühen Mittelalters mit vielen Rätseln zu kämpfen. Schriftliche Quellen sind kaum vorhanden und eindeutig datierbare archäologische Funde äußerst selten. In Frankfurt am Main fehlen zum Beispiel die Spuren einer Besiedlung zwischen 650 und 910 völlig.
Illig und Niemitz nennen weitere Beispiele: Wichtige Erfindungen wie Ackerpflug, Steigbügel und die arabischen Ziffern ließen sich im Zentraleuropa des frühen Mittelalters nicht nachweisen, während die byzantinischen und römischen Nachbarn sie sehr wohl benutzten. „Wir haben einen leeren Zeitraum“, sagt Heribert Illig. Anscheinend sei die kulturelle Entwicklung an Rhein und Donau um 600 abgerissen. Drei Jahrhunderte später erst ging es auf genau demselben Stand weiter. Was ist dazwischen passiert?
Unbeantwortet sei auch die Frage, wie berühmte Bauwerke in einer Zeit entstanden sein sollen, in der das Handwerk die verwendeten Techniken nicht beherrschte. An einem der berühmtesten Bauwerke des Mittelalters, der Aachener Pfalzkapelle, stellten die Geschichtskritiker eine Liste mit 24 „Anachronismen“ auf: So bestehe die berühmte Kuppel des Doms aus massivem Stein, obwohl zur damaligen Zeit mit Holz gebaut wurde. Die Türen seien aus kunstvollem Bronzeguß gefertigt, der erst Jahrhunderte später seine Blütezeit erleben sollte. Heribert Illig: „Die Aachener Pfalzkapelle kommt in ihrer Zeit zu früh.“ Sie werde fälschlicherweise auf die Zeit um 800 datiert, sei tatsächlich aber erst um 1100 gebaut worden.
Die Forscher kombinierten: Da war ein mysteriöser Zeitraum von drei Jahrhunderten und eine Serie zeitlicher Widersprüche, die sich in der Epoche des frühen Mittelalters häuften. „Plausibel wird die Sache, wenn man sich dreihundert Jahre wegdenkt“, erklärt Niemitz des Rätsels Lösung. Das frühe Mittelalter sei ein Märchen, von „Forschern zurechtgebogen, was das Zeug hält“. Niemitz ist eine Kämpfernatur. Die „Chronistensauerei“ will der ehemalige 68er Studentenrebell um jeden Preis aufdecken. In Berlin leitet er den Arbeitskreis Technikgeschichte des Vereins Deutsche Ingenieure (VDI): kein Kreis, in dem sich Spinner tummeln.
Niemitz und Illig haben auch eine Erklärung parat, wo die drei Jahrhunderte herkommen könnten. Kaiser Otto III. wollte gerne das Jahr 1000 erleben, obwohl er tatsächlich um 700 regierte. So drehte er die Zeit kurzerhand um 300 Jahre vor. Das hatte für ihn einen enormen ideologischen Vorteil: Im Einklang mit der christlichen Theorie der „sieben Welttage“ mußte Otto seinen ZeitgenossInnen als der Herrscher erscheinen, der den Übergang zum siebten Tag schaffte. Dieser begann in der damaligen Vorstellung exakt zur Jahrtausendwende und läutete die 1.000 Menschenjahre währende Vorbereitung auf das jüngste Gericht ein.
Nach der Umdatierung hatten Otto und seine Chronisten natürlich ein Problem: Wie die erdichteten 300 Jahre füllen? So machten sie sich daran, rückwirkend Handlungen und Personen frei zu erfinden. Auch Karl der Große, angeblich um 800 zum Kaiser gekrönt und Kultfigur jener Epoche, habe nie gelebt und liege auch nicht in der Pfalzkapelle zu Aachen begraben, treiben Illig und Niemitz ihre provokanten Thesen auf die Spitze.
„Kein vernünftig denkender Mensch hat solche Zweifel“, tönt es empört aus Aachen. Die Stimme gehört einer Kunsthistorikerin, die namentlich nicht genannt werden möchte. „Man macht sich lächerlich, sich auf solche Absurditäten überhaupt einzulassen“, fürchtet sie den Spott der FachkollegInnen. Sie verweist auf Karls Gruft und auf überlieferte Schriften: „Alles ist belegt. Es gibt Urkunden und auch ein Testament“, sagt die Karls-Verehrerin. Für Niemitz ist das längst kein Beweis: „Fast alle schriftlichen Überlieferungen des Mittelalters sind gefälscht.“
Bislang blieb es still um die historischen Außenseiter. Journalisten von FAZ bis Wochenpost wollen einfach nicht berichten, stellt Niemitz bekümmert fest. Eine Ursache des kollektiven Schweigens könnte im Verhalten der übrigen WissenschaftlerInnen liegen. HistorikerInnen weisen den Gedanken einer Fälschung als „abenteuerliche These“ und „reine Spinnerei“ zurück.
Heribert Illig: „Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit“. Gräfelfing 1994. Mantis-Verlag,
39 DM.
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