30. Todestag des Rockkritikers Lester Bangs: Wenn Freuds Frau deine Mutter wäre
Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll. Auf diesen Begriff brachte Greil Marcus die Arbeit des US-Rockkritikers Lester Bangs.
„Es gibt Erlebnisse, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert, wie der erste richtige Orgasmus. Und der ganze Sinn dieser absurden, mechanischen Beschäftigung mit aufgenommener Musik ist das Streben nach diesem unbezahlbaren Moment.“ Wer nicht glaubt, dass die Beschäftigung mit Musik zu Momenten führen kann, an die man sich erinnert wie an den ersten Orgasmus, der ist falsch bei Lester Bangs.
Der Ekstatiker des Augenblicks wird fündig. Bei „Black Saint and the Sinner Lady“, ein Album von Charles Mingus aus dem Jahr 1963. Auch John Coltrane verschafft dem Suchenden unbezahlbare Momente. Van Morrisons „Astral Weeks“, Captain Beefheart, das Debütalbum von The Clash, so weit, so Kanon.
Aber auch „Wooly Bully“, „ein unbeschreibliches Stück, das von ein paar Turban tragenden Typen aufgenommen worden war, die in einem Leichenwagen in der Gegend rumfuhren“. 1965er Kirmes-Tex-Mex von Sam The Sham & The Pharaohs. „Wild Thing“ von den Troggs, Steinzeithöhlen-Beat 1966.
Humor und Autoscooter
Man braucht Humor, um Lester Bangs zu verstehen. „Life is Not Worth Living (But Suicide’s a Waste of Time)“ ist der Titel seines einzigen Albums, bei Celine geborgt, erschienen ein Jahr vor dem frühen Tod am 30. April 1982, mit 33, Tabletten. Humor heißt, sich an Autoscooter-Musik zu erfreuen. An einem Songtitel von Mingus: „All the Things You Could Be By Now If Sigmund Freud’s Wife Was Your Mother.“
All die Dinge, die du jetzt sein könntest, wenn Sigmund Freuds Frau deine Mutter wäre? Bangs borgt den Titel für eines seiner unvollendeten Buchprojekte: „All the Things You Could Be By Now If Iggy Pop’s Wife Was Your Mother“. Von Iggy war er besessen, wie von Lou Reed. Beide verfolgte er mit einer stalkerhaften Hassliebe, ein Fan, der die Widersprüche seines Idols nicht erträgt, aber noch viel weniger erträgt, zu den Widersprüchen zu schweigen.
Vielleicht wird Iggy der Superstar
Aus der Konzertkritik eines Iggy-Auftritts, erschienen in der Village Voice 1977: „Er war so nackt in seiner Verletzlichkeit, dass es einem das Herz zerriss. Genau in diesem Moment realisierte ich, dass dieser Mann nicht wusste, was er tat, und vielleicht war es genau deswegen das Lebendigste, das ich je erlebt habe, ebenso wie die Show auf ’Metallic K.O.‘ zappelnd und obszön lebendig ist und die Person, die auf ’The Idiot‘ singt, wie ein Toter klingt.
Vielleicht wird Iggy der Superstar, an den wir alle geglaubt haben. Über den Punkrock, den er praktisch mit links ins Leben rief, ist er längst hinaus, aber es gibt noch unbeantwortete Fragen und ein Leben, das von den Antworten abhängt, wobei ich mir noch nicht mal sicher bin, ob diese Antworten überhaupt existieren.“
Das Lebendigste kursiv! Dabei weiß Bangs um die Konstruiertheit des Lebendigen, die Gemachtheit des Authentischen, den Glam des Fake. „Wie Richard Hell sagt, Rock ’n’ Roll ist eine Arena, in der man sich neu erschafft, und dieses Geschwafel über Authentizität ist nur ein Haufen Schrott. The Clash sind authentisch, weil ihre Musik brutale Überzeugung vermittelt, nicht weil sie edle Wilde sind.“
Hochtouriger Vitalismus
Typisch für Bangs’ hochtourigen Vitalismus, die selbstquälerische Suche nach Wahrheit. Die treibt ihn in Widersprüche, er treibt die Widersprüche weiter. Das Geschwafel über Authentizität. Aber The Clash dann doch authentisch?
So genau, zweifelnd und skrupulös schreibt heute keiner mehr. Auch weil es keine Orte gibt, wo sich einer wie Bangs austoben könnte. Ein Berserkermoralist mit todsicherem Radar für Doppelmoral. So einer musste wohl früh sterben.
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