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30 Jahre MarzahnOstidyll mit neuem Anstrich

Angelika Ristig gehörte zu den ersten Bewohnern ihres Plattenbaus in Marzahn. 30 Jahre nach Baubeginn hat sich das Viertel grundlegend gewandelt. Neben Arbeitslosigkeit gibt es auch Aufbruch.

11. November 1989: Die Mauer fällt. Zehn Jahre zuvor baut die DDR noch eine große Plattenbau siedlung in Marzahn. Bild: AP

Für Angelika Ristig ist der Umzug in die Marzahner Plattenbauwohnung ein Segen. Die Berlinerin lebt mit Mann und Kleinkind in einer dunkler Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg, unsaniert, muffig. "Auf einmal hatten wir dann zwei Räume, einen Flur, und es gab fließend Wasser", erzählt die heute 54-Jährige rückblickend. Die Ristigs sind die dritten Mieter in dem elfgeschossigen Haus in der Bruno-Baum-Straße, 30 Parteien sollten es insgesamt werden. "Wir waren wie eine Familie."

Drei Jahre zuvor, im Frühjahr 1979, hat die DDR mit dem Bau einer großflächigen Plattenbausiedlung begonnen - im Herzen des neuen Bezirks Marzahn, den die Ostberliner Stadtverordnetenversammlung aus den Ortsteilen Biesdorf, Hellersdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Marzahn geschaffen hat. Mit dem Bauprogramm sollten junge Familien angemessenen Wohnraum erhalten - und zu mehr Nachwuchs ermutigt werden.

In den Anfangsjahren ist Marzahn ein junger Bezirk. Fast 60.000 Wohnungen werden im Lauf der Jahre gebaut, und sie sind begehrt. Das Durchschnittsalter in Marzahn liegt bei etwa 30 Jahren. Bis die Wende kommt.

Sie ist kein Einschnitt, sie bedeutet kein neues Leben über Nacht; die Änderungen schleichen sich langsam ins Leben der Ristigs und ihrer Umgebung. Die Fassaden werden bunter, die Wohnungen saniert. "Oft sind wir durch die Straßen gefahren und haben geschaut oder uns die Nasen platt gedrückt an den Schaufenstern der neuen Geschäfte", erzählt Angelika Ristig.

Es gibt noch andere Entwicklungen. Beispiel Ahrensfelder Terrassen: Die einst elfgeschossigen Hochhäuser sind drei- bis sechsgeschossigen Flachhäusern gewichen. Aus 1.670 Wohneinheiten rings um die Havemannstraße wurden etwa 450 komfortable Mietwohnungen. Ein Zehntel davon hat Dachterrassen - sie gaben der Siedlung ihren Namen. Die Häuser sind in Orangetönen gehalten - der optische Gegensatz zum DDR-Grau.

Verdeutlicht wird der Wandel des Viertels in der Ausstellung "Zeitblicke" im Heimatmuseum Marzahn-Hellersdorf. Mehrere Bilderserien zeigen die Veränderungen aus drei Jahrzehnten bis zur Gegenwart. Wo früher die Birnbaumallee durch Felder führte, duckt sich heute ein Gewerbegebiet, durchschnitten von einer verbreiterten Straße. Die Bäume wurden abgeholzt, Freiflächen sind den Einfamilienhaussiedlungen gewichen.

Aber es wurden eben auch halb verfallene Dorfstraßen saniert, die die DDR-Führung jahrzehntelang vernachlässigt hatte. Die Häuser sind gestrichen, die Zäune repariert, in den Vorgärten blüht es. Das Bezirksmuseum selbst ist lebendes Beispiel der Stadterneuerung. Es liegt in der Mittelinsel des Angers Alt-Marzahn. Das Oval wirkt fast wie ein Museumsdorf. Die einrahmenden Plattenbaufluchten verleihen dem Szenario etwas Skurriles. "Richtig viel hat das Dorf nicht mit den Hochhäuslern zu tun", sagt die Frau an der Museumskasse und deutet Richtung Horizont, wo sich der S-Bahnhof Marzahn hinter dem Einkaufszentrum "Eastgate" versteckt. "Viele kommen eben mal zum Spazierengehen rüber." Und Zeit zum Spazierengehen haben viele: Das Ende der DDR steht auch in Marzahn für Arbeitslosigkeit - oder Abwanderung.

Angelika Ristig hingegen behält ihre Stelle in der Verwaltung eines nahen Gewerbeparks zunächst; auch ihr Ehemann, gelernter Maurer, bleibt in Lohn und Brot. Vor neun Jahren trifft es dann Angelika Ristig doch. Sie sucht, nimmt die Angebote des Arbeitsamts begierig an. Es hilft nichts: Auch mit Computerkenntnissen will sie keiner mehr.

Angelika Ristig beginnt zu fotografieren. Mit der Kleinbildkamera zieht sie durch ihren Bezirk, hält Alltägliches fest und Besonderes, die Veränderungen und die Menschen, die bleiben. Sie fotografiert die jungen Migranten, die vor dem "Eastgate" abhängen, den Bezirksstadtrat bei der Eröffnung eines Parks, sanierte Fassaden. Das Ergebnis schenkt sie ihrer Tochter Kristina zu Weihnachten.

Die nämlich würde gern zurückkommen nach Marzahn. Kristina Meyer lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, der Arbeit wegen. Dort ist es ihr zu eng, zu provinziell, sie hat lange keinen Betreuungsplatz für die kleine Tochter gefunden. "Mir fehlt auf dem Land das Großstädtische. Ich mag den Ausblick, das Anonyme", erzählt die 25-Jährige.

Den schlechten Ruf Marzahns kann sie nicht nachvollziehen. "Wir konnten hier immer und überall spielen, und es gab genügend andere Kinder", erinnert sie sich. Das Angebot für junge Menschen habe sich noch verbessert, an Qualität und Quantität. Sie nennt die Stadtteilinitiativen, den Rodelberg und den Kletterfelsen sowie das Naturschutzgebiet Wuhletal. Außerdem seien die Gruppen in den Kindergärten überschaubar, anders als in der schwäbischen Kleinstadt.

Letzteres verwundert kaum: Anfang der 1990er-Jahre lebten 60.000 Schüler im damaligen Bezirk, heute sind es nur noch ein Drittel davon. Zahlreiche Kitas und Schulen wurden geschlossen, weil die Nachfrage fehlte. Der Altersdurchschnitt in Marzahn-Hellersdorf beträgt derzeit 41,1 Jahre, und die Überalterung schreitet so rasch voran wie nirgends sonst in Berlin. Bis zum Jahr 2020 wird die Bevölkerungsgruppe der über 75-Jährigen Prognosen zufolge um 127 Prozent zulegen.

Fraglich, ob sich der Trend auf absehbare Zeit umkehrt. Kristina Meyer ist mit ihrem Rückkehrwunsch eine Ausnahme. Immerhin bilden sich Nester des Widerstands - Alexander Stahn etwa, der das Modelabel "Marzahn-Wear" gegründet hat. Sein Porträt beschließt die Museumsausstellung. "Marzahn - dont mess with" steht auf den T-Shirts der ersten Kollektion, dazu sind die Hochhäuser am Springpfuhl abgedruckt. Übersetzt heißt das etwa: "Komm mir nicht zu nahe". Er habe dem Lebensgefühl der jungen Marzahner Ausdruck geben und ihr Selbstwertgefühl stärken wollen, schreibt Stahn.

"Marzahn-Wear" fing mit 200 T-Shirts an, die der Grafiker Stahn und ein Kollege auf eigene Kosten herstellen ließen. Das Ziel für die nähere Zukunft? "Die Finanzierung der nächsten Kollektion sicherstellen." Alle T-Shirts ziert im Übrigen ein neu gestaltetes Bezirkswappen: ein schwarzes M für Marzahn, das über zwei Blocks ragt, die den typischen Ostplattenbaustil repräsentieren. Darunter steht die Zahl 1979, als Symbol für das Gründungsjahr des Bezirks.

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