30 Jahre Freie Republik: Wendland ist überall
30 Jahre Räumung der "Freien Republik Wendland": Am 4. Juni 1980 rückten 6.500 Polizisten an, mit Hubschraubern und Bulldozern. Doch die Idee ist daran nur gewachsen.
FREIE REPUBLIK WENDLAND taz | Heute ist hier nur noch nichts mehr. Es regnet auf diesen unscheinbaren Rostdeckel im Asphalt, unter dem damals alles begann. Hier, wo sich vor dreißig Jahren die Träume und Hoffnungen von tausenden Menschen zu einer besonderen Kraft bündelten, ermüdet sich heute auf ein paar Quadratmetern die Langeweile einer noch leicht verunstalteten Natur. Fritz Tietke macht ein paar Schritte auf dem letzten bisschen Teer, guckt um sich. Ringsumher wachsen heute Bäume. Nach Utopie sieht es hier nicht aus.
Tietke ist ein Kind dieses Rostdeckels. Hier lernten sich seine Eltern lieben. Hier begründeten sie den Hauch einer neuen Republik. Das war vor 30 Jahren. Fritz Tietke ist heute 28.
Er trägt ein schwarzes Polohemd mit hochgeschlagenem Kragen, darüber eine Regenjacke. "Ich bin eigentlich unpolitisch", sagt der Systemadministrator, "was wir hier tun, ist doch nur selbstverständlich." Mit "wir" und "hier" meint er eine Widerstandsgemeinschaft, die sich Wendland nennt. Vor 30 Jahren sollte ihre Freie Republik beseitigt werden. Und seitdem gibt es sie erst recht.
Sie finden diesen Text, zusammen mit vielen anderen spannenden Artikeln, in der aktuellen sonntaz vom 5./6. Juni.
Die Vision: Rund 5.000 AtomkraftgegnerInnen gründeten am 3. Mai 1980 im niedersächsischen Trebel die Freie Republik Wendland. Sie wollten eine Welt, frei von Atomkraft und Bevormundung. Sie errichteten ein Hüttendorf und vergaben Pässe, die "für das gesamte Universum" gültig waren, "solange sein Besitzer noch lachen kann".
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Die Zerstörung: Am 4. Juni 1980 rückten tausende Polizisten zum bis dahin größten Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte an. Mit Bulldozern machten sie die Republik dem Erdboden gleich.
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Die Erinnerung: 30 Jahre später soll ein am Freitag eingeweihter Schutzturm in direkter Nachbarschaft zum Atommüll-Zwischenlager in Gorleben an die noch immer akute Gefahr erinnern. Am Samstag um 12 Uhr planen AktivistInnen das umstrittene "Erkundungsbergwerk" zu umzingeln.
Der Traum ist aus
Am 4. Juni 1980 rückten 6.500 Polizisten an, mit Hubschraubern und Bulldozern, und mähten ein Projekt zugrunde, bei dem Menschen ihre Zukunft handfest definierten. Sie reisten zu tausenden ins Wendland, im damals CDU-geprägten Niedersachsen, bauten über 100 Hütten, entwarfen und gruben einen U-Bahn-Schacht, wenngleich die U-Bahn fehlte. Sie stellten "Wendepässe" aus und bauten einen Schutzturm. "Turm und Dorf könnt ihr zerstören, aber nicht unsere Kraft, die es schuf" stand auf einem Banner daran.
Ihr Traum: ein alternatives Leben ohne atomare Bedrohung. Ihr Ziel: die Besetzung des Bohrlochs 1004, ein Loch, das wichtig war. Hier sollte im Juni 1980 eine Tiefbohrung stattfinden, um ein neues Zwischenlager für Atommüll zu erkunden. Die Wendländer befürchteten, dass unter ihren Füßen für tausende von Jahren Atommüll entsorgt werden sollte. Heute, 30 Jahre später, bleibt dieser Schacht in Gorleben noch immer schwer umkämpft: Alles deutet darauf hin, dass gegen alle wissenschaftlichen Gutachten ein Endlager politisch zum Fakt gemacht werden soll.
Heute steht Fritz Tietke am Bohrloch 1004. Trotz Wind und Regen hält er die Fahne hoch, seine 86-jährige Großmutter, seine Eltern, seine Freundin - alle halten mit. Im Juni, wenn das Gelb des Rapses noch weht, dann duftet vor dem Haus der Tietkes mild der Flieder. Und nebenan, da strahlt der Sondermüll. "Damals gab es im Wendland noch keinen Raps", sagt die Großmutter. Was ist geblieben von der Utopie, die damals im Wendland entstand?
Wendland ist überall
Die Fahne der Tietkes ist noch immer die der Freien Republik. Und diese Republik ist größer, als es vielleicht je denkbar war. Denn die Geschichte der Anti-Atom-Proteste ist die - auch frustrierende - Erfolgsgeschichte einer Bewegung, deren Erfolg in Millimetern gemessen wird. Während in Zeiten der globalen Finanzkrise etwa die antikapitalistische Bewegung kaum hörbare Antworten artikuliert, sind die Atom-GegnerInnen so stark wie nur selten zuvor. 120.000 Menschen kamen erst Ende April zu der größten Protest-Menschenkette zusammen, die es in Deutschland je gegeben hat. Das Wendland ist heute überall.
Fritz Tietke ist ein Gesicht dieses Erfolgs. Wieder im Trockenen, sitzt er auf dem Sofa im Haus seiner Eltern, isst Butterkuchen. Oma Tietke hat ihn gebacken, so wie vor 30 Jahren schon. "Ich finde an dem, was ich tue, nichts Besonderes", sagt Tietke junior. "Ich bin auch nicht groß engagiert. Ich lasse mir nur einfach nicht alles gefallen." Es ist ein Pragmatismus, der verstörend wirkt. Wie kann einer, der bei jedem Castor-Protest in der ersten Reihe steht, der erst im September letzten Jahres aus Protest mit dem Trecker die 232 Kilometer bis nach Berlin gefahren ist, der dabei ist, wenn die Bauern Castor-Blockaden planen, der den Akku aus dem Handy nimmt, wenn Wichtiges zu besprechen ist, wie also kann sich so jemand für nicht engagiert halten?
"Ich habe eigentlich keine Utopie", sagt Tietke. Eine U-Bahn wollte er noch nie bauen. "Ich bin sicher kein Autonomer, ich bin gewaltfrei. Wenn es irgendwo kracht, gehe ich weg." Doch mit dem Krach des Widerstands kennt sich die Familie Tietke aus: Fritz Vater stand zweimal vor Gericht, er hat vor 30 Jahren eines der Tiefbohrlöcher mit Gülle befüllt. Einmal hat er mit seinem Trecker die Bohrfahrzeuge aufgehalten. 83.000 Mark betrug die Strafe damals. Als 2003 dutzende Bauern einen Castor-Transport über Stunden erfolgreich aufhielten, waren die Tietkes auch dabei, natürlich. Der Widerstand ist längst selbstverständlich geworden im Wendland. Die Tietkes sind nur ein kleiner Teil dieser Notgemeinschaft. Und ihre Wut wächst immer weiter.
Vielleicht hat sie ihr Utopisches verloren. "Wir müssen heute nicht mehr um Anerkennung kämpfen. Unser Anliegen wird von der überwiegenden Mehrheit automatisch geteilt", sagt Fritz Mutter Monika. 30 Jahre nach der Gründung der Freien Republik ist der Landrat im Wendland nicht mehr der Feind. Heute ist er der Schirmherr jener symbolischen Schutzhütte, die zum Jahrestag der Räumung die nicht gewichene Gefahr der atomaren Resterampe anmahnt. Die Bürgerinitiative bucht im großen Stil Werbeflächen, auf denen zum Widerstand aufgerufen wird. Der Protest ist professionell geworden, der Widerstand Alltag. Nicht nur die Tietkes halten hier die Fahne hoch.
Sicher: Aus der U-Bahn ist noch immer nichts geworden. Turm und Dorf wurden zerstört. Aber eines ist gewachsen: die Kraft, die es schuf. Heute ist hier mehr denn je.
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