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29. Oktober 1989Sonntags-Gespräche

■ Fünf Jahre danach — eine taz-Serie

Nach dem Vorbild anderer Städte hatte die SED-Bezirksleitung seit Tagen dazu aufgerufen: sogenannte Sonntags-Gespräche wolle man abhalten, in der Kongreßhalle und im Roten Rathaus. Im Rathaus sollen neben Schabowski und Krack auch Polizeipräsident Rausch, Hermann Kant und Heinrich Fink Rede und Antwort stehen. Also gehe ich dorthin.

Ungefähr 20.000 andere Berliner müssen sich das auch gedacht haben. Als ich ankomme, hat die Menge durchgesetzt, daß das Gespräch nicht im Saale, sondern auf den Stufen des Rathauses stattfindet. Auf der anderen Seite der Rathausstraße, gegenüber dem Backsteingebäude, werden eilig Podeste errichtet, von denen aus der Prominenz Fragen gestellt werden können.

Die Diskussion wogt fünf Stunden hin und her. Vor allem Friedhelm Rausch muß sich immer wieder fragen lassen, aus welchem Grund er in der vergangenen Woche in Fernsehinterviews erneut die Bevölkerung belogen habe. Seine Ausreden wirken hilflos. Er wird gnadenlos ausgepfiffen. Es ist ein Fest, zu sehen, wie der Mann mehr und mehr die Contenance verliert. Glaubwürdigkeit kann der Magistrat nur wiedergewinnen, wenn er Rausch endlich in die Wüste schickt.

Später spricht auch Erich Mückenberger von den Rathausstufen hinab zu den Leuten. Mückenberger, Mitglied des Politbüros und Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission, ist ein verhutzelter Mann von 77 Jahren. Mit brüchiger Stimme erklärt er der versammelten Menge sein Leben als Kommunist und Antifaschist. Seine Genossen und er hätten doch nur immer das Beste für die Menschen gewollt. Die jetzige Situation tue ihm leid.

Mückenberger bricht ab, weil er sich gegen die vielstimmigen Buhrufe und das gellende Pfeifkonzert nicht mehr durchsetzen kann. Verbittert tritt er in die zweite Reihe der Podiumsredner zurück. Ich gehe nachdenklich nach Hause. Wolfram Kempe

Unser Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.

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