258 Prozent Glück im Unglück: Ich will auch lustige Tage
KOLUMNE
Doris Akrap
Über Kunst, Rasen und Kanada
Erst klaut man mir bei der Fifa meinen Trenchcoat, dann „leiht“ sich die Tochter des Hotelbesitzers in Montréal meine Trainingsjacke und „vergisst“, sie wieder zurückzubringen, dann fliegen die Französinnen aus dem Turnier, und schließlich fängt es an zu regnen. „Es gibt so Tage!“, versuchen die Kollegen mich aus der heimatlichen Sportredaktion nach meiner zweiten Mama-ich-will-wieder-nach-Hause-Mail aufzumuntern.
Ja, es gibt so Tage – an denen man plötzlich denkt, was man sonst nie denkt: dass woanders Kinder verhungern. Das sind Tage, an den man von Fußball, Frauen, Flügeln, Flanken, Flaschen absolut und für immer ganz und gar nichts mehr wissen will.
Und an solchen Tagen macht man dann Fehler. Man macht nicht, wie sonst hier im Paris Kanadas, einen großen Bogen um amerikanische Kaffee-, Restaurant- und Drogerieketten, sondern rennt kopflos in den nächsten Laden, um zwischen all dem Geschreibe und Gerenne schnell Tampons zu kaufen. Und dann fragt der Kassierer: „How is your day?“
Besch… Aber es sind ja noch andere Frauen in der Stadt, denen geht es noch besch... Eine davon treffe ich im Sheraton-Hotel. Es ist Gaëtane Thiney, die Französin, die in der 115. Minute die 258-prozentige Torchance gegen Deutschland vergab. Als ich ihr mein tiefstes Mitgefühl ausspreche, lacht sie und sagt, dass sie heute einen lustigen Tag gehabt habe.
Ich will jetzt auch einen lustigen Tag haben. Wo kann ich hier irgendwo noch ’ne 258-Prozentige verschießen? Mal nach Unterkünften in der Tausende Kilometer entfernten letzten WM-Station Vancouver suchen. Bisher habe ich noch kein Zimmer unter 1.000 Dollar gefunden. Meine Zeitung hat mir versprochen, dass sie mir den Schlafsack erstattet, den ich mir eventuell zulegen muss – falls es unter den Brücken im Westen nicht auch schon eng wird.
Diese WM verspricht auf ihre letzten Tage noch sehr lustig zu werden.
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