21. November 1989: Auf dünnem Eis
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Endlich ist von Geld die Rede. Was viele, die sich einigermaßen in der Wirtschaft unseres Landes auskennen, seit Jahren hinter vorgehaltener Hand sagten, kommt jetzt in harten Zahlen auf den Tisch des Hauses: wir leben über unsere Verhältnisse. In einem Land, in dem es im Grunde billiger ist, Schweine mit Brot zu füttern als mit Kleie, Kartoffeln und Abfällen, gibt es keine funktionierende Ökonomie mehr. Die Gewerkschaftszeitung Tribüne berichtet, daß der Staat 84 Prozent der tatsächlichen Kosten der Nahrungsmittelherstellung trägt. Und dieser sogenannten „zweiten Lohntüte“ hatte man sich auch noch gerühmt. Ich erinnere mich noch an die unerfreulichen Diskussionen im Fach Politische Ökonomie, wie man uns anhielt, die Theorie der sozialistischen Produktion zu erlernen, wenn jedoch nach der Wirklichkeit gefragt wurde, nur ein Schulterzucken zu ernten war. So ziemlich alle sind sich jetzt einig darüber, daß die ökonomischen Motoren der Gesellschaft wieder in Gang gesetzt werden müssen. Aber wie das geschehen soll, weiß kaum jemand. Schnelle Rezepte sind nicht zur Hand. Von daher verwundert es nicht, wenn gestern abend in Leipzig die Losung „Keine Experimente mehr!“ aufgekommen ist. Anstatt in eine neue Phase des Großversuchs „Sozialismus“ einzutreten, ist vielen das Hemd näher als der Rock.
Da zählt auch nicht mehr, daß wir den, nach Schnitzler, zweitschlimmsten Ideologen losgeworden sind, den der DDR-Journalismus hatte: Hans-Dieter Schütt. Der nunmehr ehemalige Chefredakteur der Jungen Welt hatte 1987 beispielsweise die Opfer von Nazi- Überfällen auf eine Stufe mit den Tätern gestellt. Spät hat man ihn aus dem Sessel gestoßen. Ob es aber noch jemanden interessiert, weiß ich nicht. Die Wende ist auf dünnes Eis geraten. Wolfram Kempe
Die Serie erscheint heute zum letzten Mal. Das Motiv für die Bebilderung stammt von Riki Kalbe. Ein Portrait des Autors auf Seite 24.
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