piwik no script img

20 jahre kriegsrechtDie schwierige neue Heimat

Es war Sonntag um acht Uhr früh. Die Sonne spiegelte sich im ersten Schnee, als ich den Zug aus Warschau in Bydgoszcz verließ und die Lähmung der Stadt sah. Außer Panzern gab es keinen Verkehr auf den frisch verschneiten Straßen. Auf den öffentlichen Plätzen hielten Soldaten Wache. Niemand durfte ohne Kontrolle passieren. Zu Hause nur Trauermusik im Radio und das versteinerte Gesicht von Jaruzelski im Fernsehen: „Wir streben nicht nach einer Militärdiktatur.“ Die Telefone waren inzwischen tot.

Kommentar von JOANNA WIÓRKIEWICZ

Für Polen folgten Jahre, die das Land ins Absurdität, Armut und Verzweiflung gestürzt haben. Schließlich begann die größte Emigrationswelle in der polnischen Geschichte, die mich selbst erst einige Jahre später nach Westberlin verschlagen hat.

Ich kam nach Berlin mit 30 Mark in der Tasche, einer Schreibmaschine und einem Kind. Was mich erstaunt hat, war das Licht abends auf den Straßen und die Provinzialität dieser Stadt, die sich stets auf ihre vergangene Größe berief. „Raus!!!“, war das erste ehrliche Wort, das ich gehört habe, als ich in der Schlange vor der Küche des DRK-Lagers Spandau stand, um eine Portion Fladenbrot und Schmelzkäse für mich und mein Kind fürs Wochenende abzuholen. Es war Samstag, 16 Uhr, und die Köchin hatte Feierabend. Seitdem habe ich begriffen, dass Berlin eine Stadt ist, in der die wahren Machthaber die Köche und Hausmeister sind.

Dann der ganze Leidensweg, den man als Migrant durchgehen muss. Man ist kein Mensch mehr, man ist nur „Asylant“. Eine Schande war das. Sechs Jahre lang wurde ich in Polen von der Geheimpolizei mit totalem Arbeitsverbot gequält. Ohne Arbeits- und Sozialhilfe allerdings.

Die offene Weltstadt Berlin hat mich ebenfalls zu sechs Jahren Arbeitsverbot verurteilt. Diesmal durfte ich allerdings Sozialhilfe „genießen“. Und diese ungezügelte Lust jedes Kleinbeamten, bei jeder Gelegenheit Akademiker aus dem Osten zu erniedrigen: „Was?! Sie haben sich von Ihren Kleidungsgeld drei Paar Höschen gekauft?! Nur zwei Paare dürfen Sie haben!“ Oder: „Warum haben Sie diese Stelle bei der Gebäudereinigung abgelehnt? Was stellen Sie sich vor? Dass wir hier die kommunistischen Journalisten brauchen?!“

Zum Glück hatte ich inzwischen deutsche Freunde, die zwar nicht alles begriffen, aber sich bemühten. Und ich bemühe mich auch. Und so sind mit Mühe, Fleiß und blauen Flecken Jahre vergangen, die mir diese Stadt fast zur Heimat machten. Weil ich, Berlins ungeliebte Stieftochter, vielem von dem, wovor ich vor Jahren aus Polen geflüchet bin, hier fast jeden Tag an fast jeder Ecke begegne.

Joanna Wiórkiewicz ist freie Journalistin und Autorin       bericht SEITE 23

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen