20 Jahre Maurefall: Die Migranten: "Die Atmosphäre war vergiftet"
Einwanderer waren durch den Fall der Mauer mit entfesseltem Rassismus konfrontiert - nicht nur in der DDR. Anetta Kahane, damals Ausländerbeauftragte in Ostberlin, kämpft bis heute dagegen.
taz: Frau Kahane, 1989 waren Sie die erste und letzte Ausländerbeauftragte Ostberlins. Liest man alte Interviews mit Ihnen, hat man das Gefühl, Sie hätten damals vorausgesehen, was für eine Welle des Rassismus und Nationalismus über den Migranten in Ost- und Westdeutschland hereinbrechen würde, wenn die Mauer aufgeht. Woher wussten Sie das?
Anetta Kahane: Weil ich in der DDR gelebt habe! Ich habe gesehen, wie Ausländer dort behandelt wurden; ich habe die Nazis dort gesehen, die Stimmung der Menschen wahrgenommen. Deshalb war mir völlig klar: Das Erste, was passiert, wenn die Mauer aufgeht, ist, dass die Vietnamesen durch die Straßen gejagt werden.
Kontakte zwischen ausländischen und deutschen Einwohnern waren in der DDR ja nicht üblich.
Für die sogenannten Vertragsarbeiter in der DDR war es kaum möglich, normal in ihrer Nachbarschaft zu leben. Wer Kontakt aufgenommen hat, ist ein hohes Risiko eingegangen. Ich habe in Rostock Lateinamerikanistik studiert. Dort lebten chilenische Flüchtlinge, sie wurden bewacht und bespitzelt. Uns wurde damals gesagt, wir dürften keinen Kontakt zu Ausländern haben.
Anetta Kahane, 1954 in Ostberlin geboren. Ihre Eltern waren jüdische Kommunisten, die während des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen mussten. Kahane ist Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sie 1998 mitgründete.
Die Stiftung, die Initiativen gegen Rechtsextremismus und Rassismus unterstützt, erinnert an den Mosambikaner Amadeu Antonio, der 1990 in Eberswalde von Rechtsextremen getötet wurde. Er war das erste Todesopfer rechtsextremer Gewalt nach der Wende.
Kurz nach der Wende eskalierte die rechtsextreme Gewalt. In Hoyerswerda in Sachsen wurde im Herbst 1991 eine Asylbewerberunterkunft über mehrere Tage belagert und mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen. 32 Menschen wurden verletzt.
Ein Jahr später kam es in Rostock zu rassistischen Ausschreitungen, wieder vor einem Asylbewerberheim. Nach tagelangen Krawallen, bei denen mehrere tausend Schaulustige den Rechtsextremisten applaudierten, zündeten diese die Unterkunft an. Die Schaulustigen sowie die zahlenmäßige Überlegenheit der Neonazis behinderten die Rettungsarbeiten der Feuerwehr. Es gab mehrere hundert Verletzte, die Anklagen lauteten teils auf versuchten Mord.
Im November 1992 und im Frühjahr 93 kam es in in Mölln und Solingen zu Brandanschlägen auf von türkischen Migranten bewohnten Häusern. Acht Opfer starben im Feuer.
Hatten Sie Kontakte?
Selbst an unserem Institut war der rassistische, von Vorurteilen geprägte Blick auf diese Fremden normal. Ich kannte eine chilenische Familie, keine Kommunisten, weshalb sie sowieso als suspekt galten. Mir wurde damals verboten, sie zu treffen - mir wurde sogar gesagt, ich solle den Bezirk meiden, in dem sie wohnen. Ich bin dann heimlich mit dem Taxi hingefahren. Die Bahn war zu gefährlich, jemand hätte mich sehen und mein "Vergehen" melden können.
In der DDR lebten beim Mauerfall etwa 160.000 AusländerInnen. Woher kamen sie?
Es gab Gruppen von politischen Flüchtlingen, die in der DDR Schutz gefunden hatten, kommunistische Flüchtlinge aus Spanien, Griechenland und Chilenen, unter ihnen auch Sozialisten und Linksradikale. Das war es fast schon. Es gab ja kein Recht auf Asyl in der Verfassung der DDR, deshalb sind sie sehr selektiv aufgenommen worden. Und dann kamen die Vertragsarbeiter: Für sie galten fast menschenverachtende Lebensbedingungen.
Zum Beispiel?
Ihnen wurde Wohnraum von fünf Quadratmetern pro Person gewährt. Sie durften nicht heiraten, Frauen nicht schwanger werden, sonst mussten sie abtreiben oder das Land verlassen. Sie arbeiteten meist in eigenen Brigaden, mussten oft die schlechteste Arbeit machen, die versprochene Ausbildung fand selten statt und die Vietnamesen wurden zusätzlich zu den DDR-Aufpassern von eigenem Sicherheitspersonal bewacht. Man kam auch in ihre Wohnheime nur schwer hinein. Da brauchte man eine Art Passierschein.
Politische Flüchtlinge hatten ja oft ein positives DDR-Bild. Warum?
Flüchtlinge wurden teilweise durchaus als Zeugen für die sogenannte internationale Völkerfreundschaft benutzt. Sie waren ja selbst Kommunisten und es ging ihnen gut. Wenn sie die sozialistische Ideologie und ihr System ohne Freiheit selbst anstrebten, weshalb sollten sie nicht die DDR loben? Das Gleiche galt für die jüdischen Kommunisten, die mitunter als Kronzeugen dafür gebraucht wurden, dass in der DDR der Antisemitismus als "ausgerottet" galt. Wenn DDR-Bürger aber trotz allem zu Ausländern Kontakt haben wollten, wurde das oft als etwas Unsittliches betrachtet - wenn es etwa zu Liebesbeziehungen kam, auch als etwas Staatsverräterisches. Ein Heiratsantrag war gleichbedeutend mit einem Ausreiseantrag, und die Paare wurden oft jahrelang schikaniert.
Wie ging das zusammen: Völkerfreundschaft und Rassismus?
Wir haben kürzlich eine Ausstellung zum Thema Antisemitismus in der DDR gemacht. Das ist eines der Projekte, für die wir am meisten Hass geerntet haben. Mit der alten Argumentation: Das hat es bei uns ja gar nicht geben können, wir waren ja Antifaschisten. Dass das Gegenteil von Faschismus nicht Antifaschismus ist, sondern echte, demokratische Vielfalt, das genau war das Problem. Der Begriff Faschismus wurde in der DDR ja auch deshalb benutzt, um den Begriff Nationalsozialismus zu vermeiden. Denn national und sozialistisch waren ja Begriffe, die von der DDR stark in Anspruch genommen wurden. Darin und im sozialistischen Begriff von Demokratie steckt eine Lebenslüge, die unbedingt verteidigt werden musste.
Wie lautete die?
In der DDR wurde mit der Gründung der SED 1946 die Glasglocke des Antifaschismus über das ganze Land gelegt. Alle waren entschuldet, es gab keine Diskussionen über Mitschuld, persönliche Verwicklungen oder Bereicherungen an Krieg und Holocaust. Der Staat hat sämtliches jüdisches Eigentum als Staatseigentum praktisch arisiert, ohne Entschädigung. Es hieß, es gehe um den Klassenkampf und die Juden seien genauso Kapitalisten wie alle anderen auch. Der Begriff Völkerfreundschaft beziehungsweise Internationalismus bedeutete etwas Ähnliches wie der Begriff Ethnopluralismus, den die Nazis heute benutzen: Völker begegnen sich, diskutieren ihre jeweiligen nationalen Probleme und wo sie international sein können und gehen wieder auseinander, jeder bleibt - ohne Vermischung - an seinem Platz. Da steckt ja auch ein starker völkischer Begriff drin. Und wenn man über 40 Jahre so eine Politik betreibt, wie sollen dann die Ostdeutschen auf einmal liberale, weltoffene Menschen sein?
Für in der DDR lebende Ausländer bedeutete der Mauerfall nicht nur rassistische Verfolgung, sondern auch absolute rechtliche Unsicherheit.
Ihr Aufenthaltsstatus war nach DDR-Recht geregelt, das war bei der Wiedervereinigung ein Problem. Wir haben versucht, für die Vertragsarbeiter eine Gleichbehandlung mit den westdeutschen Arbeitsmigranten zu erreichen, also einen Status, der sich verstetigen lässt. Das konnten wir nicht durchsetzen. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass viele Vietnamesen sich selbstständig machen können. Von denen sind einige noch da und in der Gastronomie oder im Handel tätig. Von den etwa 60.000 Vietnamesen ist aber damals die Hälfte gegangen.
Und die anderen?
Viele der politischen Flüchtlinge waren schon seit Jahrzehnten in der DDR, hatten dort geborene Kinder. Für sie gab es in der Regel kein Problem - aber für Studenten und andere. Wir haben uns darum bemüht, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Das gelang aber nur für einige wenige. Im Prinzip war die Bundesrepublik damals nicht bereit, die paar Ausländer, die es in der DDR gab, mit aufzunehmen. Dies gehörte zu den vielen politischen Fehlern jener Zeit.
Welche Fehler gab es noch?
Der größte war, dass niemals ein Politiker gesagt hat, dass die Wiedervereinigung alle einschließt. Auch Migranten. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund der Asyldebatte war die Atmosphäre sehr vergiftet. Das alles hat zur gesamtdeutschen rassistischen Gewalt, die dann losbrach, beigetragen.
Wenn man Ostdeutschland heute betrachtet, könnte man meinen, dass sich nicht viel geändert hat. Gerade gab es in Dresden wieder einen Mord an einer Ägypterin.
Ja, das ist furchtbar! Die Zahl der Einwanderer hat sich in den neuen Bundesländern nicht wesentlich erhöht, sie ist von einem auf zwei Prozent gestiegen. Die Neonazis und ihre noch immer geduldeten No-go-areas sind ein klares Signal an "nicht-deutsch Aussehende", sich im Osten besser nicht niederzulassen. Dennoch ist viel geschehen: In Brandenburg, auch in Sachsen gibt es inzwischen gute Initiativen, viele Leute, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Auch auf der Ebene der kommunal Verantwortlichen gibt es eine Sensibilisierung. Es ist eben ein langer Weg.
Wie bringen Sie die Geduld dafür auf?
Ich kann einfach keinen Ort schön finden, an dem sich meine türkischen oder schwarzen Freunde nicht wohlfühlen sollen. Wenn sie verachtet werden, sei es nur mit Blicken, dann ist das für mich kein schöner Ort. Aber wenn ich sehe, wie viele Menschen sich mittlerweile engagieren, auch junge Leute, Schüler, freue ich mich. Vor zehn, zwanzig Jahren gab es das noch nicht. Dann denke ich: Was für ein Glück, diese Arbeit zu machen.
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