18. November 1989: Gewöhnliches Ausland
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Es ist ein offener, kalter Tag. Die Sonne scheint gleißend wie im Winter. Ich will einen Freund in Steglitz besuchen und beschließe, zu Fuß dorthin zu gehen. Ich will mir eine Vorstellung von den Ausdehnungen der anderen Halbstadt verschaffen. Stadtpläne sagen nichts über wirkliche Distanzen.
In Westberlin hat das Weihnachtsgeschäft begonnen. In den Einkaufsstraßen glitzert und blinkt es, Massen von Menschen schieben sich durch die Läden. Meine Landsleute sind im Gewühl nicht zu übersehen. Die einen stehen mit leuchtenden Kinderaugen vor den Schaufenstern, anderen haben in der Vielfalt längst den Überblick verloren und wenden sich ratlos von einem Grabbeltisch zum nächsten. Um richtig einzukaufen, hätten sie ihr sauer verdientes Geld schon kofferweise herüberschleppen müssen. In den Wechselstuben, die allenthalben aus dem Boden schießen, pendeln die Kurse zwischen 12 und 20 Ostmark für eine D-Mark. So laufen „die Ostler“ also durch die Kaufhäuser, den unvermeidlichen Dederonbeutel wie einen zweiten Ausweis fest in der Hand, und betrachten, was sie nicht haben können.
Nachdem ich das gesehen habe, wundert mich nicht mehr, daß von dem Selbstbewußtsein, das noch vor zwölf Tagen die Ostberliner erfaßt hatte, nichts mehr übrig ist. Die Blicke haften wieder am Boden, man vermeidet, sich anzusehen. Besonders in Westberlin, wenn man sich gegenseitig erkennt. Ich gehe in ruhige Nebenstraßen. Die Sonne blendet mich. Ich bin fremd hier. Der ferne, sagenumwobene Planet hinter der hohen Mauer ist ganz gewöhnliches Ausland. Wolfram Kempe
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