14. Oktober 1989: Ein Brief
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Heute lasse ich mich zu einer Wahnsinnstat überreden: wir schreiben einen Brief an Mielke. „Werter Genosse Minister! Wir wenden uns an Sie wegen der Ereignisse am 8. Oktober in Berlin und der Berichterstattung darüber. In unseren Medien ist nach wie vor die Rede von Provokateuren, die diese Demonstration inszeniert hätten. Wir haben etwas anderes gesehen. Wir haben Menschen gesehen, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Ansprüche, ihre Interessen, ihre Not zu artikulieren: Die Medien stehen ihnen nicht offen, sie werden, versuchen sie, legale Wege zu gehen, abgewiesen, auch kriminalisiert, ihnen wird nicht zugehört – statt dessen werden sie verdächtigt, Handlanger und Helfershelfer des Klassengegners zu sein.
Aber nicht durch die westliche Propaganda werden sie, wenn überhaupt, dazu, sondern eben durch diese Verdächtigungen, Nachstellungen. Für uns kommt es jetzt darauf an, alles, was sich auf der Straße, aber auch in vielen Papieren und Resolutionen artikuliert, ernst zu nehmen, selbst wenn es unvollkommen oder nicht zu Ende gedacht sein mag: Jedes Konzept, das in der derzeitigen Situation entsteht, wird unvollkommen, ein Denken am Anfang sein. Begreifen wir die Ereignisse der letzten Tage als Kollision von Interessen, die ausgetragen werden muß und gerade in Krisenzeiten etwas vollkommen Normales ist. Es kann nicht angehen, daß in offiziellen Verlautbarungen ständig von der Differenzierung dieser Gesellschaft gesprochen wird, in praxi aber bestimmte Interessen und Bedürfnisse einfach ausgegrenzt werden.“
Eine Antwort auf diesen Brief werden wir nie bekommen. Wolfram Kempe
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