14. November 1989: Volkskammer-Liebe
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Ich erinnere mich, daß ich, als ich 13 oder 14 Jahre alt war, die Übertragungen von Bundestagssitzungen immer mit großem Genuß verfolgt habe, besonders wenn Herbert Wehner sprach. Seine Schimpftiraden haben meine Vorstellungen von parlamentarischer Demokratie geprägt. Die Volkskammertagungen hatten dagegen den Charme eines schweren Sedativums. Bis gestern.
Gestern trat die Regierung Stoph endgültig ab. Die Herren müssen zum ersten Mal selbst Rede und Antwort stehen – vor der Volkskammer und gleichzeitig im Fernsehen. So etwas Spannendes würden die in Bonn nie hinkriegen. Denn die Reden dieser „Minister“ zeigen schonungslos ihre ganze Erbärmlichkeit. Da wird gestottert und gelogen, was das Zeug hält, und doch nützt es nichts.
Den Vogel schießt Erich Mielke ab. Nachdem er eine Zeitlang die Staatssicherheit als eine gemeinsame Zweigstelle von Rotem Kreuz und Heilsarmee dargestellt hat, hält es die Abgeordneten vor Unmut kaum noch auf ihren Sitzen. Irritiert hält Mielke inne und sagt empört: „Aber ich liebe doch alle Menschen! Ich liebe euch doch alle!“ Vor diesem schmollenden, kindischen Greis hat ein ganzes Land furchtsam gezittert. Wie den meisten Abgeordneten bleibt auch mir vor dem Fernseher das Lachen im Halse stecken. Wolfram Kempe
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