100. Todestag von Georg Heym: Er brauchte Stürme
In seiner Lyrik thematisierte Georg Heym die Ängste und Visionen einer ganzen Generation. Zum Zeitpunkt seines frühen Todes gilt er als Hoffnungsträger der modernen Lyrik.
"Stör ma nich! Ick dichte." Mit derb Berliner Schnauze fertigt Georg Heym einen ungebetenen Besucher ab, als er im Jahr 1910 inmitten tosenden Verkehrslärms auf seinem hauptstädtischen Balkon sitzt und sich dem widmet, was er am besten kann.
Das Dichten nimmt er wichtiger als alles andere, außer vielleicht sich selbst. Heym ist ein Exzentriker, und exzentrisch ist auch seine Lyrik, die bis heute kein Stück ihrer oft infernalischen, immer faszinierenden Ausdruckskraft eingebüßt hat. "Ich bin in Wüsten eine große Stadt / Hinter der Nacht und toten Meeren weit. / In meinen Gassen herrscht stets wilder Zank / Geraufter Bärte. Ewig Dunkelheit", beginnt das Gedicht "Stadt der Qual".
Heyms Lyrik thematisiert die eigene abgründige Befindlichkeit. Die aber steht stellvertretend für den Nerv einer ganzen Generation in einer ominösen Zeit, die in den konkreten Abgrund des Ersten Weltkriegs mündet. So wächst die Poesie in Form eines symptomatischen Unbehagens angesichts einer bedrohlichen Gegenwart über die übersteigerte Subjektivität hinaus: "Und Schein und Feuer, Fackel rot und Brand, / Die drohen im Weiten mit gezückter Hand / Und scheinen hoch von toter Wolkenwand" (Die Stadt).
Georg Heym: "Umbra Vitae". Reclam 2009, 66 Seiten (+ 52 Seiten Beiheft), 34,90 Euro
Gunnar Decker: "Georg Heym. Ich, ein zerrissenes Meer". Verlag für Berlin-Brandenburg 2011, 171 Seiten, 19,95 Euro
Heym, 1887 im schlesischen Hirschberg geboren und einer der herausragenden Vertreter des literarischen Expressionismus, erlebt die in seiner Dichtung vielfach beschworenen, im Krieg Realität gewordenen apokalyptischen Szenarien selbst nicht mehr. Am 16. Januar 1912 bricht er beim Schlittschuhlaufen in der Nähe von Schwanenwerder ins Eis ein und ertrinkt in der Havel. Einen kurzen, aber sehr instruktiven biografischen Essay mit dem Titel "Georg Heym: ,Ich, ein zerrissenes Meer'" hat der Publizist Gunnar Decker soeben vorgelegt.
"Schatten des Lebens"
Zum Zeitpunkt seines Todes ist Heym 24 Jahre alt und gilt in eingeweihten Kreisen als genialer Hoffnungsträger moderner Lyrik, der er einen neuen, nicht eben heiteren Sound und eine gewaltige Bildkraft einverleibt hat. Veröffentlicht hat der Verehrer Baudelaires, Rimbauds und ihrer Ästhetik des Hässlichen zu Lebzeiten nur den Gedichtband "Der ewige Tag". 1912 erscheint aus dem Nachlass ein weiterer mit dem von seinen Freunden gewählten, signifikanten Titel "Umbra Vitae, Schatten des Lebens".
1913 folgt die Novellensammlung "Der Dieb", die mit Themen wie großstädtischer Anonymität und Isolation, ausbrechendem Wahnsinn und Amoklauf, Splattermotiven und einer sehr unmittelbaren Erzählhaltung auch hundert Jahre später keinen Staub angesetzt hat. Diese und andere Prosatexte des Nietzsche-Sympathisanten und Hölderlin-Bewunderers beeindrucken und verstören in ihrer düsteren Motivik und Neuartigkeit im Ton.
Die von Ernst Ludwig Kirchner prachtvoll illustrierte und heute im Kunsthandel für etwa 13.000 Euro gehandelte "Umbra Vitae"-Ausgabe von 1924 ist bei Reclam im preiswerteren Reprint greifbar, ergänzt um ein Beiheft mit Aufsätzen der Kirchner-Expertin Anita Beloubek-Hammer und des Heym-Fachmanns Gunter Martens, der auch eine empfehlenswerte, einbändige Georg-Heym-Werkausgabe herausgegeben hat, ebenfalls bei Reclam.
Poesie, die den Weltuntergang antizipiert
Kirchner war ein Bewunderer des jung Verstorbenen, der sich wiederum als verhinderter Maler sah: "Mir hat der Satan die Kunst des Malens versagt", notiert Heym, dem das Dichten "so unendlich leicht" fällt, 1911 frustriert in sein Tagebuch. Gleichzeitig erinnern viele seiner Gedichte an die Malereien der expressionistischen Avantgarde, aber auch an Goya oder die dämonischen Szenarien eines Hieronymus Bosch.
Das Buch enthält inmitten von Weltschmerz und Elend eines der schönsten Gedichte des Jahrhundertwechsels, welches gleichzeitig eines der zartesten Heyms ist: "Deine Wimpern, die langen, / Deiner Augen dunkele Wasser, / Lass mich tauchen darein, / Lass mich zur Tiefe gehn … Manchmal wollen wir stehn / Am Rand des dunkelen Brunnens, / Tief in die Stille, / Unsere Liebe zu suchen".
Melancholie und Verzweiflung, Urängste, apokalyptische Visionen, deren Vorboten er verschlüsselt im Alltag der Großstadt findet: Heym, selbst auf dem Land aufgewachsen und erst im Alter von 13 Jahren nach Berlin gezogen, verortet die Kunst da, wo sie wehtut. Seine Poesie ist dunkle Poesie, die den Weltuntergang antizipiert.
Und er beschreibt das, was ihn unmittelbar umgibt: Armut, Arbeiterelend, Krankheit, Alkoholismus und Prostitution, eine großstädtische Tristesse, die im Kontrast zu ländlichen, in der Erinnerung gespeicherten Motiven steht. "Mein Gehirn rennt immer im Kreise herum wie ein Gefangener, der an die Kerkertür haut. Ich brauche Erschütterungen, Stürme, Qualen. - Na - die Qualen habe ich."
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