100 Jahre Thalia Theater Hamburg: Die Blicke auf sich ziehen
Zur Saisoneröffnung feiert das Thalia Theater Hamburg den 100. Geburtstag seines Bühnenbaus. Regisseur Jan Bosse spendiert ein Schauspielerfest mit Tschechows „Platonow“.
Einen besseren Standort kann man nicht finden: In Laufnähe zum Hauptbahnhof Hamburg und zur Binnenalster, in Sichtweite zur Einkaufsmeile Mönckebergstraße wirkt das neoklassizistische Eingangsportal des Thalia Theaters, das die Architekten Werner Lundt und Georg Kallmorgen entwarfen, bis heute einladend. Das Geld- und Zeitbudget für den Bau wurde in den Jahren 1911/12 auch noch vorbildlich eingehalten.
Den hundertsten Geburtstag seines Theaterbaus feiert das Thalia in diesen Tagen, und nach der Premiere von „Platonow“, der ersten großen Inszenierung dieser Spielzeit, war es mit seiner nächtlichen Beleuchtung, den Getränkeständen und feiernden Besuchern so sichtbar und belebt, dass man nicht zweifelte, dass es in jeder Hinsicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.
Der Vorgängerbau datiert sogar aus dem Jahr 1843, für die wachsende Nachfrage reichte das Haus nach der Jahrhundertwende bald nicht mehr aus. Heute hätte es so mancher gerne wieder eine Nummer kleiner. Mehr als 1.000 Plätze sind pro Vorstellung zu füllen, die Nebenspielstätte und Extraprojekte nicht mitgerechnet. Dafür hat das Thalia wie viele andere Theater ein komplexes Anreizsystem entwickelt: Klassiker und Romanstoffe laufen auf der großen Bühne, zeitgenössische Stoffe und Projekte für migrantische Jugendliche auf der Studiobühne, als Highlight gibt’s im Februar das Festival Lessingtage.
Der Spielplan zielt in die Breite, die Zuschauerzahlen sind gestiegen, verkündete Intendant Joachim Lux, der bei seiner Vertragsverlängerung eine kleine Subventionserhöhung heraushandeln konnte. Am Thalia Theater ist noch alles in Butter, vergleicht man das Haus mit Häusern in kleineren Kommunen, in denen radikal gespart wird.
Segregation statt Vermischung
Fragt man sich, wer bei dem runden Jubiläum mitfeiert, kann man also sagen: viele Menschen. Ob aber die Bemühungen um ein Publikum von den Rändern wirklich fruchtet oder wie gut sich das Publikum vermischt, darüber lässt sich wenig sagen. Das Saisoneröffnungsfest repräsentierte eher Segregation: zum Apéro stießen die offiziellen Vertreter und Anzugträger an, später blieb die buntere Partycrowd unter sich.
Um Umarmungsgesten an die Stadt bemühen sich die Intendanten überall, ob nun am Thalia Theater, dem Deutschen Theater Berlin oder den Kammerspielen München. Und doch bewegt man sich in der Spielplangestaltung in vielen ungelösten Widersprüchen, setzt etwa wieder vermehrt Klassiker auf den Spielplan, die jedoch heute nicht mehr automatisch Garant sind für ein volles Haus.
Jan Bosses Inszenierung von „Platonow“, mit der nun die Spielzeit eröffnet wurde, findet einen nicht unbedingt radikalen, aber doch bezwingenden Weg, den Text ganz selbstverständlich wie aus unserer Zeit daherkommen zu lassen und ihm doch ureigenste Qualitäten zu lassen. Eine Arbeit, die ihr breites Publikum finden wird. Den Selbsterniedrigungen und Schuldbezichtigungen einer kleinen in die Sinnkrise geratenen Gesellschaft verhilft der Regisseur zu äußerster Lebendigkeit.
Auf dem verschuldeten Landgut treffen sich die verwitwete Besitzerin Anna Petrowna, ihr Sohn mit seiner schönen Ehefrau Sofia, die bald erkennt, den falschen Mann geheiratet zu haben, ein noch reicher Geschäftsmann, der bereits die früheren Zeiten beschwört, ein verliebter Landarzt und weitere Sehnsüchtige. Sie alle sind in der schwülen Sommerhitze von dem Dorflehrer Platonow angezogen, so sehr dieser sie auch mit Spott überzieht.
In den Selbstekel rutschen
Die Inszenierung lebt von den Schauspielern, die ihre Figuren scharf konturieren können. Jens Harzer ist ein entwaffnend ironischer Platonow, der am Ende in einen stoppelbärtigen Selbstekel wegrutscht. Victoria Trauttmannsdorff verleiht der Gutsbesitzerin eine Lebenstüchtigkeit, und Bruno Cathomas wirkt wie ein Kavalier aus anderer Zeit, der nicht weiß, wo er gelandet ist. Man trifft sich in einem Wohnwagen, enger geht es nicht.
Düster ist dann der letzte Akt angelegt, wenn Platonow sich den Forderungen der Frauen stellen muss und sich das Geschehen anstrengend in die Länge zieht. Richtig rund ist Bosses Arbeit nicht, doch die Schauspieler können sich feiern lassen, und der Regisseur weiß den Raum des Thalia sehr für sich zu nutzen. Der Wohnwagen wird auf der Bühne gedreht und später ganz weggerollt. Aus der Enge zieht es die Figuren in die Weite der Bühne, je aussichtsloser ihre Situation gerät.
Die Türen aufreißen, zeigen, in welchen Räumen man sich befindet, das geschah auf ganz andere Weise auch in „Herzzentrum I-IV“. 25 Schauspieler lasen in der Thalia-Nebenbühne in der Gaußstraße aus Navid Kermanis Roman „Dein Name“. Aber eigentlich war es eine Leseverweigerung, denn die Schauspieler begannen jeweils von sich zu erzählen. Von Bernd Grawert etwa erfuhr man, dass er in dem Kölner Viertel gewohnt hat, das Kermani in einer Szene beschreibt.
Man wanderte im labyrinthischen Inneren in den Schuhfundus, dann in die Herrendusche. In dem Sammelsurium aus Dingen und Erzählungen nahm man Teil an dem Bewusstseinsstrom, den das Innere des Theaters ständig produziert und der durch das, was auf der Bühne geschieht, gar nicht immer ersichtlich ist. Ihr ehrwürdiges Alter und ihre zentrale Lage schützen die Theater nicht vor allen Krisen, aber ihre repräsentativen Standorte helfen doch auch, ihre Stärke zu zeigen.
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