10. November 1989: Über die Grenze
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Der Tag beginnt um zwei Uhr morgens. Ein Freund klingelt mich aus dem Bett und erzählt mir aufgeregt, was ich längst weiß. Er gibt keine Ruhe, bis ich mir meine Westgeld-Notreserve in die Hosentasche gestopft habe und ihn zur Invalidenstraße begleite. „Drüben“ angekommen, nötigt uns ein freundlicher Taxifahrer eine Stadtbesichtigung auf. Wortreich erklärt er uns, was wir in der Dunkelheit nicht sehen können. Seine Zigaretten verströmen einen aromatischen, leicht süßlichen Geruch. Geld will er nicht.
Wir beschließen, zu einem gemeinsamen Bekannten zu fahren. Dort trifft sich nach und nach die Reisegesellschaft, die vor fünf Wochen, als in der DDR zwar angespannte, aber scheinbar noch sichere Verhältnisse herrschten, eine Reise durch den Süden des Landes unternommen hatte. Wir verbrauchen größere Mengen Whiskey, um diese Geschwindigkeit zu begreifen.
Am nächsten Vormittag werde ich unruhig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses Durcheinander so harmlos abgeht. Ich will zurück. Im Zentralrat der FDJ habe ich mich außerdem mit einem führenden Jugendfreund zu einem Interview verabredet. Im Gebäude des Zentralrats herrscht helle Aufregung. Mein Gesprächspartner sagt das Interview ab. Das Sekretariat tage in Permanenz, die Lage im Lande drohe außer Kontrolle zu geraten. In Berlin hätten am Vormittag Kinder nach Vorzeigen ihres Pionierausweises die Grenze überqueren können. Im Westen der DDR seien ganze Landstriche entvölkert, gearbeitet würde ohnehin nirgends mehr, auch nicht in den Kraftwerken, ob es am Wochenende Strom gibt, könne man momentan nicht sagen. Dann sprintet der Mann wieder in seine Sitzung.
Von seinem Bürofenster aus kann ich auf die Mauer am Brandenburger Tor sehen, auf der Tausende ein lärmendes Fest feiern. Wolfram Kempe
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