10 Millionen Euro von Regierung: Paris will Strahlenopfer entschädigen
Frankreichs Verteidigungsminister Hervé Morin kündigt einen Gesetzentwurf für Opfer von Atomwaffentests an. Betroffene bezeichnen den Schritt als "nicht zu vernachlässigenden Fortschritt".
PARIS taz Auch französische Atombomben können krank machen. Zu dieser späten Erkenntnis ist der Verteidigungsminister in Paris gekommen. Hervé Morin hat in der Zeitung Figaro ein Gesetz zur Entschädigung von Strahlenopfern in Algerien, Polynesien und Frankreich angekündigt. Als Erstes will er dafür 10 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Eine "unabhängige" Kommission soll jeden Antrag prüfen. Grundlage für Anträge ist eine Liste von 18 Strahlenkrankheiten, die die UNO aufgestellt hat. Eine "Mindeststrahlenbelastung" und einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung muss das Opfer künftig nicht mehr nachweisen. Umgekehrt muss der Staat, wenn er einen Antrag ablehnen will, nachweisen, dass die Erkrankung des Antragstellers nicht strahlenbedingt ist.
Insgesamt 210 A-Bomben hat Frankreich zwischen 1960 und 1996 gezündet. Während der ersten sechs Jahre in Algerien, später in Französisch-Polynesien. Mindestens 150.000 Menschen - ZivilistInnen und Militärs - waren während der Tests zugegen, davon allein 20.000 in Algerien.
In den ersten Jahren drehten sie der Bombe lediglich den Rücken zu und hielten die Oberarme über ihre Augen, während sich der Pilz entfaltete. Das war ihr Strahlenschutz. Später - auf den Atollen Mururoa und Fangataufa - erhielten sie striktere Verhaltensregeln. Unter anderem sollten die Beschäftigten im Umfeld der A-Bomben keine Kokosnüsse essen, nach dem Bad in der Lagune duschen und sich jeweils sorgfältig abtrocknen.
Wer trotz Einhaltung dieser Regeln Krebs oder andere Strahlenkrankheiten bekam, musste sich auf einen juristischen Hindernislauf gegen einen schier unbesiegbaren Gegner einlassen. Jahrelang rackerten sich schwerkranke Exmilitärmitarbeiter in Einzelverfahren vor Gericht ab, um Entschädigungen zu erhalten. Meist vergeblich. Denn immer wenn eine oder einer von ihnen Recht bekam, ging das Verteidigungsministerium in Berufung. Mit dieser systematischen Schikane der Opfer soll nun Schluss sein, hat Verteidigungsminister Morin angekündigt.
Zahlreiche KlägerInnen haben sich in dem Verband der Veteranen der Atomtests (AVEN) zusammen geschlossen. Ohne dessen Lobbyarbeit wäre es vermutlich nicht zu dem Gesetzentwurf gekommen. AVEN-Präsident Michel Verger bezeichnete den Entwurf am Dienstag als "nicht zu vernachlässigenden Fortschritt".
Eine wichtige Voraussetzung für die Kehrwende war auch der Generationenwechsel im Élysée-Palast. Jacques Chirac ließ als letzter französischer Präsident Atomtests in der Natur durchführen. Mitte der 90er-Jahre stellte er auf Testsimulationen im Labor um. Sein Nachfolger Nicolas Sarkozy ist der erste französische Präsident der Atomära, in dessen Amtszeit kein Atomtest in der Natur mehr vorgesehen ist. Freilich denkt Sarkozy nicht an einen Ausstieg aus der französischen Force de Frappe. Bei der französischen Rückkehr in die Kommandostruktur der Nato hat er die Unabhängigkeit der französischen atomaren Streitmacht von der Nato zur Bedingung gemacht. Sarkozy will allein die Kontrolle über die französischen A-Bomben behalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands