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■ 10 Jahre Postkommunismus (2): Die Entwicklung in Russland zeigt exemplarisch das Scheitern des Übergangs zur MarktwirtschaftIm Osten nichts Neues

Der neoliberale Modellplatonismus geht an der russischen Wirklichkeit vorbei

Für den internationalen Währungsfonds bestand die Weltwirtschaft seit den 60er-Jahren aus zwei Abteilungen: „Industriestaaten“ und „Entwicklungsländer“. Der Kollaps des Realsozialismus hat dieses Schema um eine dritte Kategorie bereichert. Fanden sich Polen, Rumänien, Russland, Ungarn, Kirgisien und Co. zu Beginn des Jahrzehnts unter dem provisorischen Titel „frühere Planwirtschaftsökonomien“ in der IWF-Berichterstattung, so firmieren sie seit 1993 als „countries in transition“, auf Deutsch: „Transformationsstaaten“.

Diese Sprachregelung hat mit der schon lange eingebürgerten euphemistischen Bezeichnung für die „Dritte Welt“ ihren ideologischen und imperialen Charakter gemeinsam. Das Wort „Entwicklungsland“ hat stets das westliche Modell und seine wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Vorgaben als einzig denkbaren Maßstab festgeschrieben. Das neue Begriffsungetüm für die ehemalige „Zweite Welt“ wiederholt diese Grundfigur und steigert sie zur teleologischen Heilsgewissheit. Die Weltregion zwischen Cheb und Wladiwostok erlebt keine Reise ins Ungewisse oder gar zu einem neuartigen Zustand, sondern eine ins Wohlvertraute. Wo Osten war, muss Westen werden.

Die ergraute Wortschöpfung „Entwicklungsland“ hat im Laufe der Zeit zusehends einen beschwörenden, kontrafaktischen Charakter angenommen. Sie gaukelt eine Perspektive erfolgreicher Modernisierung vor, die sich mittlerweile für fast alle asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Länder in Nichts aufgelöst hat. Der Begriff „Transformationsstaaten“ bezeichnete von Beginn an nur eine Fata Morgana. Er bürgerte sich ein, als zumindest in der Ex-Sowjetunion das marktwirtschaftliche Programm bereits gescheitert war.

Exemplarisch für dieses allgemeine Fiasko ist die Misere des maroden russischen Koloss. Die IWF-Oberen haben zwar noch 1998 allen Ernstes versucht, eine insgesamt positive Bilanz für ihr größtes Schuldnerland zu ziehen, aber schon die ökonomischen Eckdaten wollen nicht so recht zu dieser Schönfärberei passen. Nur als Maßstab: Während der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre brach in den am schlimmsten betroffenen kapitalistischen Kernstaaten, den USA und Deutschland, das Bruttosozialprodukt insgesamt um 28 bzw. 15 Prozent ein. In den letzten acht Jahren waren es in Russland dagegen satte 54 Prozent. Selbst der große „Vaterländische Krieg“ mit seinen gigantischen Verwüstungen und 20 Millionen Toten nimmt sich im Vergleich dazu wirtschaftlich gesehen fast harmlos aus. Zwischen 1941 und 1945 sank das Bruttosozialprodukt lediglich um 21 Prozent.

Eine Besserung der katastrophalen Lage ist am Ende des 20. Jahrhunderts nirgendwo in Sicht. Allein in diesem Jahr hätte Russland ohne weitere Umschuldungsmaßnahmen 24,5 Milliarden Dollar für den laufenden Schuldendienst – Zinsen und Tilgung – aufbringen müssen. Das Bruttosozialprodukt belief sich aber schon 1998 nur auf 100 Milliarden, lag damit pro Kopf deutlich unter dem von Botswana oder Gabun; heuer dürfte es nach Schätzungen des IWF um weitere 7 Prozent sinken.

Soweit die Wirtschaftssubjekte überhaupt noch füreinander produzieren und sich nicht auf die Selbstversorgung beschränken, sind ihre Beziehungen weitgehend demonetarisiert. Rechnungen werden gar nicht gezahlt oder in der Form von Tauschgeschäften („Barter“) beglichen. Auf der Basis von Geld funktioniert nur mehr die „Schattenwirtschaft“.

Die russische Misere hat sich weiter verschärft, seitdem die Wirtschaft des Landes in den Strudel der Asienkrise geriet und zeitgleich durch den beschleunigten Verfall der Rohstoffpreise und den Verschleiß der Förderanlagen auch noch die wichtigste noch verbliebene Devisen- und Steuerquelle immer spärlicher sprudelte. Hinzu kommt, dass etwa 1998 ganze 90 Prozent der tatsächlichen Steuereinnahmen von einem Unternehmen stammten: Gasprom. Diese Zuspitzung der Lage führte bei den westlichen Unterstützern zu einem Stimmungsumschwung. Die Gesundbeter verstummten erst einmal, stattdessen sind nun Schuldzuweisungen angesagt: Russland wird nicht gesunden, heißt es, solange es die verordnete Medizin nicht konsequent genug schluckt. In einem Punkt trifft diese Sichtweise durchaus: In der politischen Klasse Russlands blieben jene „Reformer“, die wildentschlossen waren, die brachialen IWF-Programme durchzupeitschen, stets eine Minderheit. Der praktischen Politik haben sie lediglich während einer relativ kurzen Phase, von 1992 bis 93, ihren Stempel aufgedrückt. Seitdem Jelzin die Lieblingslehrlinge der „Chicago boys“, Gaidar und Tschubais, aus den Schlüsselämtern abberufen hat, haben sämtliche einander in kurzer Folge ablösenden russischen Regierungen zwar offiziell ihren Kotau vor den neoliberalen Konzepten der Geldgeber gemacht; aber nur um de facto mit den internationalen Krediten die akuten Haushaltslöcher zu stopfen und die Taschen ihrer unmittelbaren Klientel zu füllen.

Wer aus diesem Faktum eine neoliberale Verrats- und Dolchstoßlegende ableitet, verwechselt indes Ursache und Wirkung. Die „Marktreformen“ scheiterten nicht etwa an der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung. Umgekehrt: Sie konnten gar nicht konsequent durchgezogen werden, weil sie in ihrem neoliberalen Modellplatonismus an der russischen Wirklichkeit vorbeigingen. Schon ihre partielle Verwirklichung war aber schlimm genug. Sie potenzierte das Elend der russischen Ökonomie, statt es zu lindern.

Die Perspektive des IWF und seiner russischen Außenstation zeichnet sich durch ein einseitiges Starren auf die monetäre Ebene aus. Die Überzeugung, dass die Heilung der wirtschaftlichen Misere mit Maßnahmen wie der Deregulierung des Preissystems, dem bergang zur Währungskonvertibilität und mit der Behebung der Zahlungsbilanzprobleme zu beginnen habe, wurde dabei nie aus einer wie auch immer gearteten Analyse der spezifischen Verhältnisse in den „Transformationsstaaten“ hergeleitet. Hinter ihr stand der neoklassisch-monetaristische Irrglaube, wirtschaftliche „Fehlallokationen“ seien allein das Produkt monetärer Verzerrungen und würden mit deren Beseitigung verschwinden.

Die westlichen Unterstützer der Marktreformen haben noch eine zweite heilige Kuh, die sie hätscheln. Sie stilisieren beharrlich – übrigens ironischerweise in stillem Einverständnis mit dem alten Sowjetmarxismus – die Eigentumsfrage zur alles entscheidenden Systemfrage hoch und suchten dementsprechend nach Kräften, auf eine beschleunigte Entstaatlichung hinzuwirken. Eine noch so entschlossene Privatisierung schafft unter den Bedingungen einer hochgradig zentralisierten und dabei unterproduktiven Volkswirtschaft indes keineswegs den Rahmen für die erhoffte marktwirtschaftliche Stabilisierung; sie kann angesichts aufgehäufter Defizite und auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfähiger Unternehmen nur in ein System sich überkreuzender Eigentumsansprüche münden.

90 Prozent der Steuereinnahmen stammten 1998 von einem Staatsunternehmen

So verliert der Staat den Zugriff auf den privatisierten Reichtum der Gesellschaft und kann keine Steuern mehr abschöpfen, während seine verschiedenen Untergliederungen für die vorhandenen Schulden zuständig bleiben. Am Ende des Privatisierungsprozesses stehen dementsprechend keine dynamischen Unternehmen, denen es um langfristige Profite geht und die in eine produktive Zukunft investieren. Die Demontage der staatlichen Zentralgewalt öffnet vielmehr alten und neuen Oligarchien enorme Freiräume, um unter Vernachlässigung jeder Reinvestition für sich aus dem Abwracken der produktiven Restsubstanz Cash zu schlagen.

Die Privatisierungsbemühungen führen zu wirtschaftlichem Autokannibalismus. Der Westen mag sich angesichts dieses Ergebnisses noch so sehr entsetzen und Vetternwirtschaft und Korruption verantwortlich machen. Was er als angebliches Haupthindernis auf dem Weg zur marktwirtschaftlichen Ordnung beklagt, ist der wirkliche Inhalt der „Reformen“.

Weil in Russland mit dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Warenproduktion die Basis für jede Form von Warengesellschaft weggebrochen ist, wurde auch die Funktionstrennung von regulärem Markt und regulärem bürgerlichen Staat gegenstandslos. Übrig bleiben mafiose Strukturen, in denen private Bereicherung und staatliche Administration fließend ineinander übergehen. Ernst Lohoff

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