10 Jahre Big Brother: Bertolt Brecht für Arme

Heute startet wieder eine Big-Brother-Staffel: vor 10 Jahren noch Skandal, regt sie 2010 kaum mehr auf. Eskalation des Formats in Großbritannien: Reality-TV mit Kriegsversehrten.

Zlatko Trpkovski, früherer Bewohner des "Big Brother"-Containers im Juni 2000. Bild: dpa

Zurück zu den Wurzeln: Das wünschen sich zumindest die Programmverantwortlichen von RTL II für die "Mutter aller Reality Formate" – und meinen "Big Brother". Denn der öffentliche Vollzug währt bereits zehn Jahre, mit immer bröckeligerem Ergebnis.

Doch nun soll die aktuelle Staffel, die heute abend unter der unvermeidlichen Moderation von Aleksandra Bechtel startet, zu alter Größe auflaufen. "Wir versuchen jetzt wieder neue Zuschauer zu erreichen", sagt RTL II-Programmchef Holger Andersen "sie sollen bemerken, dass hier echte Emotionen eine Rolle spielen, echte Konflikte, die eben nicht scripted oder inszeniert sind." Also: Alle Insassen sollen diesmal eine "echte Geschichte" über sich zu erzählen haben. Wow!

Denn dass sich wirklich etwas Neues abspielt, darf bezweifelt werden. Denn schließlich würden mit schematischen, wie in einem Drehbuch vorgeschriebenen Verhaltensweisen immer wieder die gleichen Konfliktmuster in Gang gesetzt, sagt auch der Medienwissenschaftler Norbert Bolz.

"Der Erkenntnisprozess hält sich doch sehr in Grenzen. Nach einer Sendung hat man begriffen wie es läuft. Das ist Bertolt Brecht für Arme". Dennoch werde auch diese Staffel funktionieren, "weil es bei ,Big Brother' gelungen ist, den Spitzenwert unserer Zeit – Authentizität – zu suggerieren", so Bolz: Man sei dann eben doch "gerne bereit zu glauben, dass hier richtiges Leben im verkleinerten Maßstab stattfindet."

Das wird auch in England versucht: Hier, wo "Big Brother" beim öffentlich-rechtlichen Channel Four läuft, möchten die Verantwortlichen mit der Jubiläumsausgabe ebenfalls Traumquoten einfahren – und gehen deutlich weiter als deutsche Programmmacher. In Großbritannien werden zurzeit Irak- oder Afghanistan-Veteranen gesucht, die nach ihrem Einsatz obdachlos oder bei Kampfhandlungen verletzt wurden.

Ohne derlei Militärhilfe zielt RTL II in Deutschland auf mindestens acht Prozent Marktanteil in der "werberelevanten" Zielgruppe der 14-49-Jährigen. Auch das hört sich weniger nach einem fulminaten Neustart an, denkt man an die vergleichsweise sensationelle Zuschauerresonanz der ersten Staffel anno 2000.

"Als Zlatko auszog, standen auf einmal einige tausend Menschen vor dem Gelände, nachdem sie sämtliche Vorgärten in Hürth platt getrampelt hatten", erinnert sich der zuständige Produzent Rainer Laux von Endemol Deutschland. Aber nicht nur hier, sondern in rund 80 Ländern entwickelte sich die usprünglich in den Niederlanden erdachte Show zum Publikumserfolg.

Die Euphorie ist längst abgeflaut: Direkt nach dem Start folgten in Deutschland in kurzen Abständen zwei weitere Staffeln, parallel dazu sprangen andere Sender mit weiteren Reality-Formaten auf den Zug auf. Der Overkill war damit bereits Ende 2001 besiegelt. Die späteren Staffeln ab 2003 gerieten eher zur Liebhaber-Veranstaltung. Allerdings bleibt "Big Brother" bis heute eine feste Größe der leichten Fernsehunterhaltung.

"Eine "Urszene in der Fernseh-Entwicklung" sieht Bolz sogar in dem Format, das auch als eine Variante der Casting-Show gelten kann: "Mit einem unglaublichen Mut, den wahrscheinlich nur das Privatfernsehen mit seinem Zwang, Geld verdienen zu müssen, haben konnte, ging es in Richtung schlechter Geschmack."

Zudem passe "Big Brother" perfekt ins Online-Zeitalter. "Der Unterscheid zwischen Zuschauer und Akteur wird immer mehr verwischt, was ja auch ganz gut zur Internetkultur passt", so Bolz, "es wird immer mehr suggeriert, zwischen Realität und Virtualität gäbe es einen fließenden Übergang. Die Zuschauer wollen selber die Helden sein, um die es geht. Größenwahn ist eine Volkskrankheit geworden."

Ganz anders als Medienwächter, Politiker und andere Bedenkenträger hat Bolz in "Big Brother" aber nie eine Gefahr für die Gesellschaft, geschweige denn den Untergang des Abendlandes gesehen. Der war schon vor Ausstrahlung der ersten Staffel 2000 gern mal beschworenen worden: "Menschenverachtend", "brutaler Psychostress" waren noch die harmloseren Vorwürfe. Bereits vor der Ausstrahlung wurde ein Verbot gefordert.

Der Psychologe Ulrich Schmitz, der für RTL II die Kandidaten betreut, kann sich noch gut an die Aufregung erinnern: "Sicher bleibt eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem Format, aber die Doppelmoral, die damals sichtbar wurde, war unerträglich. Den Menschen wurde einfach abgesprochen, eigene Entscheidungen treffen zu können. Und dieselben, die damals geschrieen haben, befürworten jetzt die Vorratsdatenspeicherung. Das ist das wahre Big Brother."

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