: Verketten und vernetzen
Der Verein Choroso feierte am Wochenende die Eröffnung seines Atelierhauses in Friedrichshain. Nach zehn Jahren Verhandeln und Bauen entstand ein günstiger Arbeitsraum. Ein seltener Glücksfall
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Als noch die Winterkälte in den Straßen nistete, tauchten an weißen Plakatwänden im Stadtraum vier Worte auf: „unbehaust“, „behaust“, „unbedacht“, „bedacht“. Mit diesen Begriffen, die das Wohnen mit den Möglichkeiten des Handelns und Denkens in Beziehung setzten, schob Beate Maria Wörz eine Denkpause zwischen die Werbebotschaften. Jetzt hängen die Plakate in einem Treppenhaus in Friedrichshain, in dem sie selbst ein neues Atelier gefunden hat. Dort feierte der Verein Choroso e.V. mit Konzert, Lesung und offenen Ateliers auf sechs Etagen am Wochenende sein Einweihungsfest.
Michael Kaul, der zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehört, war vor zehn Jahren unter den ersten, die auf der Suche nach günstigem Arbeitsraum im Hinterhof eines Wohnhauses in der Straße der Pariser Kommune fündig wurden. Nur drei Etagen waren noch in dem Seitenflügel, der seit einem Brand als Ruine dastand, nutzbar. 1993 gründete Kaul und andere den Verein Choroso mit dem Ziel, den leer stehenden Flügel als Atelierhaus auszubauen. Fast wäre das Selbsthilfeprojekt an langwierigen Verhandlungen mit der Wohnungsbaugesellschaft gescheitert. Doch dann konnte der Verein einen Investor vorschlagen, der das Haus kaufte und den rückwärtigen Flügel auf 28 Jahre an die Künstler verpachtete. Der Ausbau wurde zu je 42 Prozent mit öffentlichen Mitteln aus einem Atelierförderprogramm und einem Kredit finanziert. Die restlichen 15 Prozent wurden in Eigenhilfe erbracht. So entstanden sechs Ateliers von 70 Quadratmetern, die jetzt zu günstigen Konditionen (6 Mark pro Quadratmeter) und langfristig den Nutzern zur Verfügung stehen.
Zur Einweihung hat Michael Kaul Skulpturen und Installationen aus Kugeln, Ringen und Ballons aufgebaut, die sich zu Körpern aneinander schmiegen, zu dichten Zellverbänden verketten oder als fragile Modelle in den Raum ausdehnen. Seine Skulpturen folgen noch einmal dem Traum von flexiblen Verbindungen und anpassungsfähigen Strukturen. In ihrer Leichtigkeit aber ist keine Spur mehr von den zehnjährigen Mühen und Rückschlägen.
Beate Maria Wörz, die lange mit einem Arbeitsraum unterm Dach auskommen musste, der nur unzureichend heizbar war, hat nun endlich einen Ort, an dem die Fäden ihrer unterschiedlichen Projekte zusammenlaufen können. In ihrem Atelier hängen gezeichnete „Stadtgeflechte“, fiktive Pläne, auf denen die Grundrisse von Häusern, Straßen und Plätzen wie amorphe Zellen ineinander greifen.
Mit Chaos und Zufall, Steuerung und Überraschung arbeitet Christian Bilger in seinen Installationen aus elektrischen Impulsen, verschachtelten Rohrleitungen und hüpfenden Tischtennisbällen. Sie gleichen verwirrenden Versuchsanlagen, deren Aufwand im Verhältnis zum Ergebnis oft bestürzend komisch ist. Eine Maschine zum Zeichnen, die Bilger entwickelt hat, stellt sehr spontan und subjektiv wirkende Bilder her. „Sie ist sehr fehlerfreundlich“, erklärt Bilger ihre persönliche Handschrift.
Im Atelier von David Reuter spielt sein Sohn Basketball auf einem winzigen Feld. Zwischen Sport und Spiel, Kunst und Theater sucht Reuter, der lange die Werkstatt Bühne und Spiel in der Hochschule der Künste geleitet hat, nach Formen der Interaktion. Kunst wird da zum Modell für soziale Beziehungen.
Das Klischee von der Isolation des Künstlers in seinem Atelier hat dagegen Lucio Auri für zwei Tage in Szene gesetzt. Bei ihm kam man nur bis zur Küchenecke, um dann hinter einer Plastikfolie nach dem Künstler Ausschau zu halten, der irgendwo zwischen Werkzeugen, Möbeln und seinen Skulpturen verschwunden war. Er baut Möbel dysfunktional um, spielt mit Einsichten und Verschlossenheit. Insofern passte die Situation, den Besucher an der Schwelle zu halten.
Für viele Künstler ist die Vorstellung, Unbekannte in ihre Arbeitsräume vorzulassen und über ihr Werk zu reden, ein Graus. Dennoch häufen sich in den Sommermonaten die Einladungen zu offenen Ateliers: An den nächsten Sonntagen laden die Bezirke Weißensee und Pankow ein, Friedrichshagener Künstler öffnen ihre Ateliers, und das Atelierhaus Panzerhalle auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne Waldsiedlung in Groß Glienicke zeigt seine sechste Ausstellung.
Dabei geht es den Künstlern und Kulturämtern nicht nur um Öffentlichkeit jenseits des Kunstmarktes. Sie wollen vor allem mit Nachdruck für die Notwendigkeit von günstigem Arbeitsraum werben. Seit 1990 sind durch rapide steigende Gewerbemieten viele ehemalige Ateliers verloren gegangen. Wo Künstler in den Achtzigerjahren Fabriketagen in Kreuzberg ausgebaut hatten, zogen Architekturbüros und junge Unternehmer ein. Neue Atelierhäuser entstanden oft unter abenteuerlichen Bedingungen auf abgelegenem Gewerbegelände, in alten Wohnhäusern und ehemals grenznahen Straßen. Oft sind die Nutzungsmöglichkeiten zeitlich sehr begrenzt: In der Panzerhalle haben die Künstler nur noch für ein halbes Jahr einen Vertrag und können von langfristigen Bedingungen, wie sie Choroso e.V. erreicht hat, nur träumen.
Anfang der Neunzigerjahre richtete das Kulturwerk des Berufsverbandes Bildender Künstler ein Atelierprogramm ein, das mit Unterstützung des Senats über 200 Ateliers zu günstigen Mieten vermittelt. 5.500 Künstler arbeiten heute in Berlin, schätzt das Atelierbüro, tausend mehr als zu Beginn der Neunzigerjahre. Mehr als ein fünftel davon sucht bezahlbaren Arbeitsraum. Die Sparprogramme des Senats haben auch die Investitionen in die Verbesserung der Infrastruktur nicht verschont. Umso mehr freuten sich die Unterstützer des Vereins Choroso, in der Straße der Pariser Kommune die Einweihung des Atelierhauses zu feiern.
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