Das gefühlsechte Lied: Entblößt, authentisch, peinlich
Große Lieder, die von großen Gefühlen handeln, treiben so manchem die Schamesröte ins Gesicht. Ehrlicher wäre es, seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Das hat sie mir doch nur im Vertrauen, im absoluten Vertrauen erzählt. Nein, ihren Namen dürfe ich auf keinen Fall nennen, niemals. Also sei das geschworen. So beichtete Karin, die im wahren Leben eben nicht so heißt, 49 Jahre, dass sie als junges Mädchen von ihrem Geld fürs Brötchenaustragen fünf Mark für eine Single abgezweigt habe. Keine mit einem Lied von Uriah Heep, von Deep Purple oder T. Rex, wie es die Jungs in ihrer Klasse hielten, sondern von, Gott, wie peinlich, von Elfi Graf.
Elfi Graf? Nachgeborene sollten wissen, dass das eine Sängerin war, die es im Schlagergeschäft versuchte und wie so viele Mädchen scheiterte - denn Träume vom Mikrofon wissen nichts von Arbeit, von Nerverei, von langen Pausen im Studio, von der kühlen Atmosphäre der Produzenten, und sie wissen erst recht nichts von der kalten Berechnung, mit der auch eine Elfi Graf ins Scheinwerferlicht getrieben wurde.
"Herzen haben keine Fenster" lautete ihr erster und allerletzter Erfolg, aber der hatte es in sich. Karin jedenfalls, heute eine sehr coole Frau im Medizinmanagementbereich, ausgestattet mit minderjähriger Tochter mit aktuell entsprechend aufsässigen Manieren, diese Karin hatte sich dieses Lied gekauft.
Erwähnt man das Karin gegenüber ungebeten, kann sie frostig werden - aber in ihren Augen leuchtet es leicht: Ja, sie erinnert sich doch gern, sie weiß, welches Mädchen sie war. "Ich mochte dieses Lied, es war mir so aus dem Herzen gesprochen, ich war verliebt, und er sollte mich meinen, nicht alle Mädchen, denen gegenüber ich mich hässlich und unscheinbar fühlte." Elfi Graf war eben diese Interpretin aufgewühlter Mädchenfantasien: "Herzen haben keine Fenster / nur eine Tür allein / Jeder Mensch hat ein Geheimnis" … und Karin hatte das ihre.
1. Elvis Presley: Suspicious Minds
2. Dr. Hook & The Medicine Show: Sylvias Mother
3. Elfi Graf: Herzen haben keine Fenster
4. Gilbert Bécaud (oder Caterina Valente, Corry Brokken, Nana Mouskouri): Et maintenant
5. Echt: Du trägst keine Liebe in Dir
6. Frank Schöbel: Wie ein Stern
7. The Mamas & The Papas: Dream
A Little Dream Of Me
8. Marion Maerz: Er ist wieder da
9. Lobo: Id Love You To Want Me
10. Axelle Red: Pars
11. Melissa Etheridge: You Can Sleep While I Drive
12. Céline Dion: Think Twice
13. Madonna: Frozen
14. André Heller: Du Du Du
15. Jacques Brel: Le moribond
16. Monika Morell: Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an
17. Dolly Parton: Jolene
18. Don McLean: Vincent
19. Abba: The Day Before You Came
20. Anastacia: Im Outta Love
21. Shakira: Tù
22. Doug Supernaw: Not Enough Hours In The Night
23. Roy Black: Ich denk an Dich
24. Eric Carmen: All By Myself
25. Tina Turner: Private Dancer
26. Outlandish: Aisha
27. Sarah McLachlan: Adia
28. Udo Jürgens: Sag ihr, ich lass
sie grüßen
JAF
Was aus Elfi Graf wurde, ist nicht weiter überliefert, aber gewiss scheint, dass sie eine Kostbarkeit gesungen hat, dies mit leicht tränenerstickter Stimme, sacht brüchigem Timbre, als stünde sie vor einem und erzählte vom Drama des Lebens, das sich auf Liebe reimt und wie Liebeskummer sich anfühlt. Weshalb aber will Karin nicht mehr mit diesem Geschmack in Verbindung gebracht werden? Warum schämt sie sich, dass da eine wie diese Elfi Graf es vermochte? Weshalb soll niemand wissen, dass Edelgard, später autonome Hausbesetzerin im Norddeutschen, als Teenager für die Ansprachen des Roy Black schwärmte? Aus welchem Grund ist es so schwierig, Björn dazu zu bewegen, seine glühende Anbetung für die blonde Abba-Sängerin Agnetha Fältskog einzuräumen, jetzt, da er mit ökoorientierter Architektur sein Brot verdient und mehr auf Jazz denn auf Schlager steht?
Ohne es wissenschaftlich je ganz präzise wissen zu können, weil kulturwissenschaftlich eben alles nur eine Annäherung ans vage Wahre ist, darf man doch mit guten Argumenten vermuten: weil Gefühle etwas sehr Persönliches sind; und wenn sie ohne jeden Anflug von Ironie oder Witz in einem populären Musikstück (zählt man ihn zum Schlager, zum Pop oder zu anderen Gattungen, Soul beispielsweise, wo es auch ums Ganze ging) dargereicht werden, wirkt es wie eine Entblößung, zeigt man sie allzu offenbar.
Aber um nichts anderes geht es bei populärer Musik. Ihre Produzenten suchen Tag für Tag nach der Formel, die ihnen hilft, ihre Produkte zur Kundschaft zu bringen. Doch die ist wählerisch. Gefühle sind okay - Roy Black hat sie im deutschsprachigen Popgewerbe wie kein anderer glaubwürdig verkörpert -, aber Gefühligkeit wirkt käsig. Weshalb einem Rex Gildo nie so ganz getraut wurde. Gefühle im Lied dürfen mächtig sein, müssen es sogar sein, aber sie haben absolut unkünstlich aufzuscheinen. Jeder Musikproduzent weiß, dass nichts so schwer zu schaffen ist wie Natürlichkeit - denn kein Lied im Studio wird beim ersten Versuch schon für okay befunden. Jeder Sänger, jede Sängerin hat es vielmals zu singen; und auch ein Roy Black musste "Ganz in Weiß" etwa dreihundertmal intonieren, ehe seine Magie hörbar wurde. Man muss sagen: mit Erfolg. Roy Black konnte Gefühle darstellen, ohne dass es wie gespielt aussah oder klang. Er verdiente damit Millionen, sein Umfeld ebenso. Das war eben ihre Kunst: die innersten Gefühle so zu bedienen, dass es wie eine persönliche Botschaft klang.
Das ist überhaupt das Vermögen aller Lieder, die auf ihre Art unsterblich wurden - und ihrer Interpreten, die sie zu ihren Nummern machten. Caterina Valente sang "Was wird aus mir?" 1964 bei den Deutschen Schlagerfestspielen, die deutsche Variante von Gilbert Bécauds "Et maintenant". Ein Couplet der sitzen gelassenen Frau, die anklagend, verzweifelt, wütend, mutlos, dem Zusammenbruch nah, nicht weiterweiß nach dem Scheitern ihrer Liebe zu einem Mann. Die Valente, auf dem Zenit ihres Ruhms, weckte bei ihrer Performance die Befürchtung, dass ihre Ehe wohl selbst kriselte, so überzeugend, so glaubwürdig und mitreißend gab sie das Chanson. Aus einer glänzenden Vorlage eine Vorstellung zu kreieren, die wie aus dem Moment heraus geboren wirkt, authentisch, echt und nah, das können nur die Großen. Und die Kleinen nur manchmal, als Zufallstreffer, wie Elfi Graf eben.
Was all diese Lieder der entblößten Gefühle gemein haben, ist, dass sie ohne Witz, ohne Distanz aussprechen, was in den schlimmsten Momenten des Lebens Sache ist: Und dies verbietet jede Ironie. Die Sekunden der Verzweiflung empfindet nur einer, der auf dem Boden eines tiefen Brunnens hockt und kein Licht über sich sieht. Die meisten Schnulzen, seien sie von Howard Carpendale, Chris Robert oder Cindy & Bert gesungen, sind Dokumente der Verkitschtheit. Man hört heraus, dass es nicht ernst gemeint ist, sie können alle ihre Routine nicht verbergen. Sie singen, was sie zu singen hatten, aber ihre Gefühle wirken gefühlsduselig, ob nun "Deine Spuren im Sand", "Hab ich Dir heute schon gesagt, dass ich Dich liebe" oder "Immer wieder sonntags".
Gefühle zu interpretieren gelingt also nur wenigen; den Moment zu spielen, ohne dass es wie ein Spiel wirkt, das ist Kunst.
In der Oper haben diese Gefühle ihren klassischen Platz, hierhin hat die bürgerliche Welt die aufwühlende, zehrende Kraft des Scheiterns, des Aufstiegs und der Vergeblichkeit verbannt. Dort, aus der sicheren Entfernung der Logen, Parketts und Ränge, konnte bestaunt werden, was Passion ist, was Tragödie und Leiden. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass Coolness das beste Rüstzeug gegen die Anfechtungen der Leidenschaft sein könnte. Man war geschäftig, standesbewusst und erlaubte sich in der Freizeit Gefühle - aber Kühlheit als Haltung der Unnahbarkeit, versehen mit Witz und Ironie, war der bürgerlichen Gesellschaft vor hundert Jahren fremd.
Im Pop sind diese Gefühle erlaubt, ohne sie funktioniert kein Ton, keine Anteilnahme; ohne glaubwürdige Gefühle ist alles kaltes Metall. Im Pop haben Gefühle ihren Rang und ihren notwendigen Platz. Eine der dramatischsten Balladen der Sechzigerjahre, gecovert von der Britin Cilla Black, im Original von den Righteous Brothers, heißt "Youve Lost That Lovin Feeling". Darin heißt es, übersetzt: "Ich würde auf die Knie sinken, damit du mich noch einmal ansiehst, damit du mich erkennst, mich siehst, dann lieb ich dich, wie niemand sonst geliebt werden kann."
Jede Zeile, jede der vielen hundert Geigen signalisiert: Du kannst dich noch so sehr erniedrigen, es wird nichts nützen. Eine Kaskade des Gefühls, dem das Wort "glaubwürdig" nicht mehr beigefügt werden muss - abgesehen davon, dass die diesbezüglich einzig relevante Institution das Publikum selbst ist. Doch das glaubwürdige Gefühl ist eine Seltenheit im heutigen Pop. Die postmoderne Ära kennt nur noch die Liebe unter Vorbehalt. Das Drama ist eine Ausdrucksform unter vielen, nicht die, in der alle Existenz aufgeht.
JAN FEDDERSEN, 50, taz.mag-Redakteur, glaubt an die Kraft des gefühlsechten Liedes
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