1. Oktober 1989: Humanitärer Akt
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Schon vor Monaten haben ein paar Freunde und ich beschlossen, in der ersten Oktoberwoche Berlin zu verlassen und durch den Süden der DDR zu reisen. Wir wollten uns einen Überblick verschaffen über die Situation der Provinztheater in den Bezirken Leipzig, Halle und Dresden. Morgen soll es losgehen.
Am Abend sitzen wir in meinem Wohnzimmer im Prenzlauer Berg beieinander und beratschlagen, ob wir an unseren Reiseplänen festhalten sollen. Einige von uns haben Bauchschmerzen bei der Vorstellung, uns in dieser Situation um Theater zu kümmern. Die Spannung im Land steigt von Tag zu Tag spürbar. Während wir beieinandersitzen und das Für und Wider des Unternehmens abwägen, läuft der Fernsehapparat. Er läuft ständig in den letzten Tagen, der Ton abgedreht. Nur nichts verpassen. An diesem Abend laufen auf allen West- Kanälen immer wieder die Bilder eines triumphierenden Genscher auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag, leicht hysterisch jubelnden Menschen mitteilend, daß sie ab der nächsten Woche mit Zügen in die Bundesrepublik abgeschoben werden. Ich erinnere mich dabei an die Berichte der letzten Wochen, in denen Menschen zu sehen waren, die mit einer Plastetüte in der Hand über ungarische Grenzwiesen laufen. Ich empfinde das alles nur noch als entwürdigend. Am nächsten Tag wird das Neue Deutschland auf Seite zwei (oben rechts, wo immer die wichtigen Sachen stehen) von einem „humanitären Akt“ sprechen und regierungsamtlich kommentieren: „Sie haben alle durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt.“ Die Ignoranz, die die alten Männer im Politbüro an den Tag legen, erzeugt nur noch mehr Wut.
Wir beschließen, zu fahren. Dieses Land ist zu einem Irrenhaus geworden. Auf einen Irrsinn mehr oder weniger kommt es da auch nicht mehr an. Wolfram Kempe
Der Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.
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