... und raus bist du!: taz-Debatte „Berlin nach Pisa: Wo bleibt die Chancengleichheit?“ (Teil 2)
Bleiben oder wegziehen? Schule ich mein Kind in der Innenstadt ein? Ein Pro und Contra Nicht erst seit der Pisa-Studie ist klar: Von Chancengleichheit kann im deutschen Bildungssystem keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Kinder aus armen und eingewanderten Familien haben es schwer. In Berlin besuchen sie vor allem Kitas und Grundschulen in den Innenstadtbezirken. Was tun mit diesen Einrichtungen? Dieser Frage stellt sich - immer dienstags - eine Debattenserie der taz. Den Auftakt machte vorige Woche Safter Cinar vom Türkischen Bund. Nächste Woche: Andreas Heintze vom Institut für Mehrsprachigkeit in der Einwanderungsgesellschaft: Falsche Schüler? Falsche Schulen!
BLEIBEN: Dirk Knipphals will mit seiner Familie Schöneberg nicht verlassen. Seine Kinder sollen nicht in einem spießigen, monokulturellen Vorortbezirk aufwachsen.
Vorortbezirke kommen nicht in Frage. Das hat, zugegeben, nichts mit pädagogischen Überlegungen zu tun, sondern mit reinem Elternegoismus: Unser Lebensentwurf ist ohne fußläufige Anbindung an Kinos, Theater, Cafés und Kneipen nicht realisierbar. Zudem erfüllen uns die familiären Monokulturen der Vorgartensiedlungen mit sanftem Gruseln; wir sind beide in Vororten aufgewachsen, das reicht in unseren Fällen fürs Leben.
Aus dieser Grundentscheidung fürs Urbane ergibt sich in Bezug auf unsere Kinder eins: Wir haben uns zu arrangieren mit den Gegebenheiten. Tricksereien und sich zunächst absurd anhörenden Überlegungen sind wir durchaus aufgeschlossen; wenn wir davon im Bekanntenkreis hören, äußern wir vollstes Verständnis.
Bis vor zweieinhalb Jahren lebten wir in Hamburg, und zwar in dem übel beleumundeten, in Wahrheit aber zumindest zur Hälfte äußerst lebenswerten Stadtteil St. Georg in Hauptbahnhofnähe. Der Einschulungstermin unseres Sohnes rückte näher, und wir hatten schon mit dem Gedanken gespielt, ihn auf der nahe gelegenen katholischen Schule anzumelden. Die städtische Schule war eins dieser Lehrinstitute, von denen man nur das Schlechteste hört: unzweckmäßig hoher Ausländeranteil, frustrierte Lehrer, Probleme mit Schülergewalt. Als Vater (und Mutter) hat man ja gewisse sensible Antennen für diese grassierenden katastrophischen Erzählungen aus dem heutigen Sozialalltag.
Zum Glück fiel der Umzug nach Berlin vor den Einschulungstermin, und wir konnten unseren Kindern den näheren Kontakt mit religiös motivierten Pädagogen ersparen. In Berlin hatten wir zweifaches Glück. Die für uns passende Wohnung fanden wir in Schöneberg und nicht, wo wir auch gesucht hatten, in Prenzlauer Berg. Was in den einschlägigen Westvierteln der hohe Ausländeranteil mit seinen Integrationsschwierigkeiten, das ist im Osten ja der Ossi-Lehrer mit seinen – wie man hört, und es kann von den Lebensprägungen auch kaum anders sein – nur angelernten diskursiven Fertigkeiten: ein im Elternbewusstsein nagendes Problem, für das man zwar eigentlich vollstes Verständnis hat, das man seinen Kindern aber ersparen will.
Das zweite Glück: Wir fanden eine nahe städtische Schule, die uns gefällt. Zwar nicht unbedingt die Schule, auf die unser Sohn von unserer Adresse her hätte gehen sollen; aber es gelang, ihn dort unterzubringen. Die Schule hat ein überzeugendes pädagogisches Konzept, einen handhabbaren und bereichernden Ausländeranteil, motivierte Lehrer und ein Elternspektrum vom Dönerbudenbesitzer bis zur Kreativberuflerin.
Wenn hier etwas konservativ ist, dann sind es gewisse Mütter und Väter, die auf Elternversammlungen schon mal nachfragen, warum die Leistungen ihrer Sprösslinge nicht früher und schärfer benotet werden. Das übrigens sind Eltern, vor deren Übermacht wir unsere Kinder auch gerne bewahren wollen. In einer Vorortschule hätten wir dazu sicher weniger Chancen als im funktionierenden Multukultikontext unseres innerstädtischen Kiezes.
Hier können sie (nach unseren Vorstellungen) normal aufwachsen: mit den üblichen Problemen, inmitten der ganzen Fülle von Lebensentwürfen, die unsere individualisierte Gesellschaft bereithält. Der Vorort, der so etwas bereithält, wurde noch nicht auf die grüne Wiese gesetzt.WEGZIEHEN: Hilde Barlage denkt mit ihrer Familie übers Wegziehen aus Kreuzberg nach. Ihre Kinder sollen nicht die Zeche für eine verfehlte Integrationspolitik zahlen.
Hierbleiben oder wegziehen? Diese Frage stellt nicht nur die taz. Mit diesem Motto lud vor anderthalb Jahren auch die Evangelische Ölberggemeinde in Kreuzberg zu einer Bürgerversammlung ein. Diese Fragestellung fand ich damals ziemlich überzogen. Natürlich, die allgegenwärtige Vermüllung mit ausrangierten Möbeln und Autoteilen sowie Auseinandersetzungen mit herumhängenden, offensichtlich vernachlässigten Kindern und Jugendlichen hatten auch mir den Kiez etwas madig gemacht. Und auch in der Bürgerversammlung ging es vorwiegend um bürgerliche Correctness und das Gefühl von Bedrohung. Aber während ich damals die Option, wegzuziehen, noch brüsk zurückgewiesen hätte, stellt sich die Frage mit der bevorstehenden Einschulung meines Kindes im nächsten Jahr ganz anders.
Seit ich vor 12 Jahren nach Kreuzberg zog, sind die multiethnische Bevölkerungsstruktur Kreuzbergs und ihre Auswirkungen auf die Lebensqualität ein viel diskutiertes Thema in meinem Bekanntenkreis. Ein altgedienter Grundschullehrer beharrte stets darauf, dass Schulen mit hohem Ausländeranteil spezielle Angebote entwickelt hätten, um die Defizite von nichtdeutschen Schülern auszugleichen. Gerade an seiner Schule werde mit viel pädagogischem Engagement versucht, die Integration unter deutschen und nichtdeutschen Schülern zu fördern. Diese nachdrückliche Werbung für ein Multikulti aus professionellem Munde ließ mich jedes Mal wieder Mut fassen, dass unsere Gesellschaft auch in sozialen Brennpunkten die nötigen Gegenmaßnahmen zu ergreifen wisse.
Doch als vor einem Jahr ebendieser Bekannte geknickt erzählte, dass er in seiner neuen Klasse nur noch ein einziges originär deutschsprachiges Kind habe, bestätigten sich meine alten Zweifel wieder. Mangels ausreichender Deutschkenntnisse sei kein vernünftiger Unterricht, geschweige denn eine individuelle Förderung der Kinder möglich, sagte er.
Wenn also engagierte Lehrer zu resignieren scheinen, dann frage ich mich, wie engagierte Eltern reagieren sollen. Laut einer Empfehlung des SPD-Landesvorsitzenden Strieder sollen sich diese Eltern weniger auf private als auf die staatlichen Schulen konzentrieren. Gerade die staatlichen Schulen brauchten das Engagement der Eltern. Seine Konsequenz daraus ist die Kürzung des Personalzuschusses für Privatschulen. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Soll ich als engagierte Mutter etwa den Job der Politik machen, für die Bildung zwanzig Jahre lang kein Thema war?
Aus der Kita meines Sohnes werden in diesem Jahr zwei Kinder eingeschult; eines in eine Konfessionsschule in Neukölln, das andere in eine Montessori-Klasse in Kreuzberg. Sollte ich es mir in einem Jahr leisten können, werde ich mein Kind entweder auf eine Europaschule oder eine Konfessionsschule schicken.
Wenn das nicht geht, ziehen wir ganz weg. Wir ziehen in einen Bezirk, wo sich das Grundrecht auf freie Bildung auch an einer ganz normalen Schule einfordern lässt. Wo ich nicht nach schulpolitischen Inseln schielen muss, die entweder kostenpflichtig oder nicht durchgängig sind. In den innerstädtischen Westbezirken scheint dies nur in Ausnahmefällen gegeben zu sein. Mein Kind jedenfalls soll nicht die Zeche für eine verfehlte Integration von Zuwanderern, auf die Berlin so angewiesen ist, zahlen müssen.
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