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Atomwaffentests in Kasachstan Nukleare Steppe

Wie überzeugt man Regierungen davon, sich gegen Atomwaffen zu entscheiden? Die kasachische Expertin für Nuklearwaffen, Togzhan Kassenova, erklärt dies an der Geschichte von Kasachstan.

Togzhan Kassenova, die kasachische Nuklearexpertin beschäftigt sich mit der Gefahr von Atomwaffen Elliot O'Donovan

taz lab | Stell dir vor, du isst Fleisch, das mit radioaktiven Isotopen durchsetzt ist. Stell dir vor, deine Kinder trinken kontaminierte Milch und die Wände deiner Wohnung bekommen Risse, weil die Erde unter dir ständig bebt – und du hast es so satt, dass du aufhörst, sie zu reparieren. Über eine Million Menschen in Kasachstan müssen sich das nicht vorstellen, sie haben das erlebt.“ So beginnt Togzhan Kassenova ihre Geschichte über Kasachstan.

Kasachstan ist beinahe achtmal so groß wie Deutschland. Semipalatinsk ist eine Stadt im Nordosten des Landes, ringsherum die kasachische Steppe, die der sowjetischen Regierung in Moskau „unbewohnt“ erschien und so zum Atomwaffentestgelände Semipalatinsk wurde. Ein Gebiet so groß wie Sachsen.

Zwischen 1949 und 1989 explodierten hier 456 Atomwaffen. Tatsächlich aber war diese Steppe keineswegs „unbewohnt“. Im Gegenteil, für Kasachen war und ist die Landschaft eng mit ihrer Geschichte verbunden.

Hier lebte Abai, der große Dichter, hier wurden Philosophen, Dichter, und Sänger geboren. Hier weidete Vieh, lebten viele Menschen von dem Fleisch und der Milch, das in dieser fruchtbaren Steppe produziert wurde. Das ist auch heute noch so. Und auch heute noch ist das Land radioaktiv verseucht.

Was tun mit dem atomaren Erbe?

Togzhan Kassenovas Vater wuchs in direkter Nähe zum Atomwaffentestgelände Semipalatinsk auf. Er arbeitete nach dem Zerfall der Sowjetunion für die kasachische Regierung, als das junge unabhängige Land entscheiden musste, wie es mit dem Atomwaffenarsenal umgehen sollte, das es von der Sowjetunion geerbt hatte.

Ähnlich wie die Ukraine entschied man, sich von den Atomwaffen loszusagen. Im Gegenzug dafür sollten die Großmächte – insbesondere Russland, China und die USA – die territoriale Souveränität Kasachstans garantieren.

Obwohl Togzhan Kassenova selbst in Almaty, einer Millionenstadt im Südosten des Landes, aufgewachsen ist, also nicht in unmittelbarer Nähe des Atomwaffentestgeländes, hat es ihr Leben stark beeinflusst.

Wie ihr Vater widmet sich Kassenova in ihrer Arbeit der Gefahr von Atomwaffen und der Frage, wie man Atomwaffen verhindern, wie man Atomwaffen abschaffen kann. „Solange Atomwaffen existieren, sind wir alle Geiseln“, so Kassenova.

Seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, einem Land, dem damals dieselbe Garantie gegeben wurde wie Kasachstan, wird Kassenova häufig gefragt, was in einem nuklearen Krieg passieren würde.

Doch Kassenova hat eine andere Frage: „Warum haben wir uns dafür entschieden, in solch einer Welt zu leben? Einer Welt mit mehr als 13.000 Atomwaffen. Und wie haben es neun Länder geschafft, uns davon zu überzeugen, dass sie Atomwaffen für ihre eigene Sicherheit brauchen?“

Nein zu Atomwaffen

Dass es möglich ist, zu Atomwaffen Nein zu sagen, zeigen Staaten wie Kasachstan und die Ukraine. Auch wenn viele Ukrai­ne­r*in­nen heute der Überzeugung sind, dass Russland nicht angegriffen hätte, wenn sie die Atomwaffen behalten hätten.

Doch Togzhan Kassenova ist der Meinung, Kasachstan sollte es nicht bereuen, die Atomwaffen abgegeben zu haben. Sie erzählt von einem Land, das nach Jahrzehnten von Atomwaffentests keine Atomwaffen mehr haben wollte. Außerdem gab es geopolitische Gründe: Kasachstan brauchte den Zugang zu internationalen Finanzmärkten, die sich dem Land nur unter der Bedingung öffneten, dass es sich von seinen Atomwaffen trennen würde.

Für Kassenova aber sind es nicht nur Regierungen, sondern vor allem Menschen, die diese Entscheidungen treffen. In Kasachstan waren es die riesigen Demonstrationen gegen Atomwaffentests in den späten 1980ern, die klar zeigten, dass die Menschen keine Atomwaffen mehr wollten. Aber müssen Menschen wirklich erst die furchtbaren Folgen von Atomwaffen an ihrem eigenen Leib erfahren, um gegen Atomwaffen auf die Straße zu gehen?

Die Geschichte Kasachstans ist die Geschichte eines Landes, das sich gegen Atomwaffen entschieden hat. Für Kassenova bleibt die wichtigste Frage: Wie können wir auch andere Länder davon überzeugen und vor allem, wie können wir die Atommächte dazu bewegen, Atomwaffen zu entsagen?

Mehr dazu erzählt Togzhan Kassenova auf dem taz lab, die Autorin dieses Textes moderiert.