Politik und Pandemie : Corona is not over
Wenn die potentielle neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP wirklich die epidemische Notlagensituation aufhebt, nimmt sie wissentlich eine rasch steigende Zahl von Corona-Toten in Kauf.
Von UDO KNAPP
Jens Spahn ist Noch-Gesundheitsminister. Als solcher hat er vorgeschlagen, Ende November die Feststellung der epidemischen Lage aufzuheben, der Ausnahmesituation wegen der Corona-Pandemie. Damit entfiele die Legitimation für die Bundesregierung, auf dem Verordnungswege für die ganze Republik einheitliche Maßnahmen zu Minderung der Corona-Infektions- und Sterbezahlen durchzusetzen, vom Lockdown bis zur Impfpflicht. Die Bundesländer müssten dann in eigener Zuständigkeit Abwehrmaßnahmen gegen Corona organisieren. Alle Länder lehnen das ab. Sie wissen, dass sie wegen der Bindung an ihre Landtage und die vielfältigen Koalitionen, mit denen regiert wird, niemals ein bundeseinheitliches Vorgehen gegen Corona hinbekämen.
„Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein.“
„Es ist eine verfassungsrechtliche (…) Frage, ob die Regierung eines Verfassungsstaates überhaupt das Recht hat, Politiken zu verfolgen, mit der sie eine wissenschaftlich vorhersehbare, also nach menschlichem Ermessen vermeidbare Steigerung der Infektions- bzw. Sterbezahlen in Kauf nähme.“
„Aber weil der Staat als der einzige kollektiv handlungsfähige Akteur erforderliche Maßnahmen effektiv planen muss und diese nur (…) in der Gesamtheit der Bevölkerung organisieren und durchsetzen kann, ist er schon aus funktionalen Gründen genötigt, Solidarleistungen (…) zwingend vorzuschreiben.“ JÜRGEN HABERMAS in Blätter für deutsche und internationale Politik, 09/21
Mit anderen Worten: Spahn (CDU) und die Koalition aus FDP, Grünen und SPD, die alte und die mutmaßlich neue Bundesregierung, nehmen die lange vorhergesagte und wissenschaftlich valide belegte exponentielle Steigerung der Infektionsrate und die rasch steigende Zahl von Todesfällen – vorwiegend Ungeimpfte – in der vierten Welle bewusst in Kauf.
Die auf freiwilliger Basis angelegte Impfkampagne in der Bundesrepublik ist zwischen 60 und 70 Prozent Geimpfte festgefroren. Unabhängige Untersuchungen bei den Impfunwilligen belegen, dass eine freiwillige und substantielle Steigerung der Impfwilligkeit nicht mehr zu erwarten ist. 2G, 3G sind sinnvoll, halten aber das Ausbreiten des Virus nicht auf. Die willkürliche Lockerung plausibel begründeter Beschränkungen des Kontaktes im öffentlichen Leben befeuern das Infektionsgeschehen. Schulen und Universitäten, Fabriken und Büros mutieren im mehr oder weniger testintensiven Normalbetrieb wieder zu Corona-Hotspots. Die Krankenhäuser warnen vor schnell volllaufenden Intensivstationen und steigenden Todesfällen.
Die zukünftige Regierung will alle Maßnahmen aufheben
Vor allem die FDP, aber auch die Grünen schwadronieren, dass es jetzt genug sei mit den Freiheitsbeschränkungen. Beide Parteien haben verkündet, dass sie an der Regierung spätestens mit Frühlingsbeginn 2022 alle einschränkenden Maßnahmen aufheben werden. Der kompetenteste Gesundheitspolitiker des Bundestages, also Karl Lauterbach (SPD), hat ein solches Vorgehen immer wieder kompetent und differenziert kritisiert. Diese öffentlich wahrgenommene Erklärer- und Mahner-Rolle hat ihn aber nicht die naheliegende Nachfolge von Spahn gebracht, sondern wird sie ihn wohl kosten.
Ein Blick in die anderen europäischen Länder zeigt ein ganz anderes Regieren. In Italien hat Ministerpräsident Draghi mit großer Mehrheit im Parlament den „green pass“ für die gesamte „workforce“ des Landes eingeführt. Wer nicht geimpft ist, wird unbezahlt von der Arbeit ausgeschlossen. Trotz gewalttätiger Proteste hat die Regierung an ihrem Kurs festgehalten. Die Zustimmung der Bevölkerung ist groß und die Impfquote liegt inzwischen bei weit über 80 Prozent.
In Frankreich hat die Regierung Macron schon seit Anfang September dieses Jahres die verpflichtende Vorlage eines „pass sanitaire“ eingeführt, eines kompletten Impfnachweises plus wöchentlicher Testung beim täglichen Arbeitsantritt für alle Berufe mit Publikumsverkehr. Auch hier haben die Demonstrationen gegen die Maßnahmen nicht zur Abschwächung des Druckes auf die Nichtgeimpften geführt.
Größerer Impfdruck in anderen europäischen Ländern
In Österreich wird im Parlament gerade, auf Initiative der Grünen, ein Stufenplan beraten, an dessen Ende ein faktisches, strafbewehrtes Ausgehverbot für Ungeimpfte stehen wird. Bundeskanzler Schallenberg (ÖVP) hat erklärt, er werde nicht zulassen, „dass das Gesundheitssystem überlastet wird, weil wir noch zu viele Zögerer und Zauderer haben.“
In Portugal hat die Regierung die Durchführung der Impfkampagne einem hochrangigen General und dem Militär übertragen, mit dem Erfolg einer fast 100-prozentigen Impfquote und hoher Zustimmung in der ganzen Bevölkerung.
Die alte und die mutmaßlich neue Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP dagegen haben ein Problem mit ihrer Funktion im demokratischen Rechtsstaat. Sie scheinen nicht bereit zu sein, die ihnen vom Grundgesetz aufgetragene Pflicht zu erfüllen, in der gesellschaftlichen Ausnahmesituation einer Pandemie eine Existenzbedrohung für Einzelne und das gesamte gesellschaftliche Leben entschlossen abzuwenden.
„Good Governance“ wird auch in kommenden Krisen wichtig sein
Sie nehmen das Delegitimieren des Versprechens im Grundgesetz für ein gemeinsames Einstehen aller für alle auf der Grundlage verfassungsfester Gesetze in Kauf, also den Kern des Zusammenhaltes der Gesellschaft. Sie überlassen den Impfunwilligen und ihrem demokratiefeindlichen und oft offen rechtsradikalen Umfeld unbehelligt und populistisch ein breites Handlungsfeld im öffentlichen Raum – mit der Fahne individueller Freiheit wedelnd.
Bei der politischen Durchsetzung einer immer noch notwendigen Impflicht geht es mittlerweile um mehr als eine seuchenpolitische Schutzmaßnahme. Es geht um die Bereitschaft der Regierenden, den legitimen Handlungsanspruch der an Recht und Gesetz gebundenen staatlichen Institutionen beim Schutz der ganzen Bevölkerung im Ausnahmezustand der Pandemie auch gegen irrationalen und prinzipiell regierungsfeindlichen Widerspruch entschlossen durchzusetzen.
Das ist umso wichtiger als Ausnahmesituationen, die jener der Pandemie ähneln, auch bei einer Klimawende ins ökologische Zeitalter jenseits fossiler Energieträger zu erwarten sind. Good Governance wird dann, ganz im Sinne von Jürgen Habermas (siehe oben) heißen, mit angemessenen Mitteln demokratischer Herrschaft den Vorrang der validen, belegten Notwendigkeiten im Interesse einer sicheren Zukunft der ganzen Gesellschaft durchzusetzen.
UDO KNAPP ist Politologe. Für taz FUTURZWEI schreibt er regelmäßig einen Kommentar.