Die Grünen und die Freiheit : Ökodiktator Kretschmann?
Baden-Württembergs Grüner Ministerpräsident hat für die Zukunft ein Pandemie-Notstandsgesetz vorgeschlagen. Damit wolle er die Ökodiktatur vorbereiten, rufen die Freiheitsrhetoriker. Denken wir das mal durch.
Von UDO KNAPP
„Wir brauchen für Pandemien ein eigenes Regime. (…) Meine These lautet: Wenn wir frühzeitige Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen können, die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann könnten wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen. (…) Möglicherweise muss man dafür das Grundgesetz ändern, das kann ich nicht beurteilen. Damit sollte sich (…) eine Enquetekommission des Bundestags befassen. (…) Wir müssen uns die Frage stellen: Wie weit können wir gehen, ohne dass wir einen Polizeistaat schaffen? Aber ein Virus ist eine ganz andere Kategorie. Er ist ja ein völlig unpolitisches Phänomen, nicht von Menschen gemacht, sondern er kommt von außen und tritt nur temporär auf.“ – Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Stuttgarter Zeitung vom 25. Juni
06.07.21 | Damit Pandemien künftig rechtzeitig und effektiv eingedämmt werden können, ohne zu viele Tote und unbeherrschbare Kollateralschäden, braucht die Bundesrepublik Pandemie-Notstandsgesetze. Das ist der Vorschlag, den Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann gemacht hat.
Auf Grundlage dieser Gesetze soll die Exekutive in exklusiver Verantwortung und Entscheidungsmacht Maßnahmen ergreifen können. Dazu kann auch die vorübergehende Einschränkung der allgemeinen Bürgerfreiheiten gehören. So ein Pandemie-Notstandsgesetz könnte für die Dritte Gewalt aller Ebenen die verfassungsfeste Grundlage sein, um die Anti-Pandemie-Notmaßnahmen der Exekutive rechtsfest sicherzustellen.
Die Zuständigkeits-Streitereien zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen haben ein zielführendes Handeln in den letzten zwei Pandemiejahren immer wieder ausgebremst. Die sich fortwährend wiedersprechenden Urteile auf allen Rechtswegen bis zum Bundesverfassungsgericht in Pandemiefragen, der unregulierte Missbrauch der bürgerlichen Freiheiten und der sozialen Medien für die fortlaufende Delegitimierung legaler demokratischer Herrschaft, nicht zuletzt die hohen Todesraten, die bei einer zentralen Steuerung möglicherweise niedriger ausgefallen wären, die gesundheitlichen Covid-Langzeitschäden von tausenden Bürgern, die Leid und Schmerzen mit sich bringen, die langwirkenden, wirtschaftlichen Schäden und die exorbitanten Belastungen aller öffentlichen Haushalte und der Sozialsysteme – all das legt ein ernsthaftes Nachdenken über Kretschmanns Initiative nahe. Etwas anderes, als darüber nachzudenken, hat er in seinem Interview mit der Stuttgarter Zeitung nicht vorgeschlagen.
Ein Aufschrei der selbsternannten Wachhabenden liberaler Freiheiten
Stattdessen folgte der Aufschrei der selbsternannten Wachhabenden der liberalen Freiheiten. „Der Prototyp des Biedermanns, dem man autoritäre Anwandlungen nicht zutraut, (…) ein freundlicher, immer gut gekleideter älterer Herr, den man sich gern im Kreis seiner Enkel vorstellt“, denke darüber nach, wie man das „Regime“ ändern müsse, um „harte Eingriffe“ in die Freiheiten der Bürger zu ermöglichen, schrieb etwa Henryk M. Broder in der Welt. Damit sei die Katze aus dem Sack. Denn Kretschmann und seine Grünen redeten nur vordergründig über das Eindämmen von Viren-Pandemien. „Sie sind über Corona längst hinaus. Sie planen bereits Maßnahmen, um den sich entfaltenden Klimawandel in die Knie zu zwingen.“
Kretschmann, Habeck und die Grünen verkappte Pandemie-Öko-Leninisten? Sie wollen die Welt mit einer Öko-Diktatur vorm Untergang retten – das ist das gern genommene Leitmotiv dieser Denkschule.
Der „gute Zweck“ heiligt nicht jedes Mittel – diese banale, aber mit millionenfachem Leid und irreversiblen Zerstörungen bezahlte Zivilisationserfahrung, vor allem des letzten Jahrhunderts, gehört seit der gesellschaftlichen Revolte von 1968 zum Kernbestand des politischen Denkens jeder ernstzunehmenden außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik. Das gilt auch, wenn man die kurzzeitigen Verirrungen in kommunistischen Splittern im Anschluss an 1968 ins politische Erinnern einbezieht. Das gilt auch und gerade für die Grünen. Für Kretschmann sowieso.
Zukunftssicherndes Handeln wird immer schwieriger
Gleichwohl bleibt trotz dieser Zivilisationserfahrung ein zentrales demokratiepraktisches Problem ungelöst. Liberale, freiheitliche Gesellschaften werden in ihren Entwicklungen von politischen Kompromissen geprägt, die in aller Regel das wissenschaftlich Gegebene und für richtig Erkannte, das Vernunftbestimmte, das historisch Notwendige entweder gar nicht oder nur in der zweitbesten Variante adressieren. Mit der Folge, dass die Zukunft sichernden Schritte für alle immer schwieriger werden.
Beharrendes Nichtstun, Ignoranz gegenüber dem historischen Wandel oder sogar aktives Unterdrücken aller Bemühungen ums Weiterkommen bestimmen dann das politische Handeln und die politische Öffentlichkeit. Liberale Freiheiten verlieren ihre emanzipatorische und unheilvermeidende Kraft und Attraktivität
Wenn demokratische Freiheiten Bestand haben sollen, ist der einzige systemtische Ausweg eine situativ angepasste, rechtstaatlich normierte, verfassungsfeste Herrschaft der Gesetze und die dadurch legitimierte demokratische Herrschaft der Exekutive.
Absurde und bösartige Unterstellung
In diesen Zusammenhang ist Ministerpräsident Kretschmanns Vorschlag für ein Pandemie-Notstandsgesetz einzuordnen. Ihm geht es nicht um einen Regime-Change, sondern um ein rechtstaatlich geregeltes, zielbezogenes, zeitlich begrenztes Durchregieren in der Pandemie.
Es ist absurd und bösartig, einem Politiker wie Kretschmann mit seinem gelebten, verantwortungsethischen Selbstverständnis zu unterstellen, er wolle die ihm per Pandemie-Notstandsgesetz zugewiesene Macht dazu missbrauchen, um eine Öko-Diktatur zu errichten. Dass ähnliche Instrumente die ordnungsrechtlich angemessenen Mittel sein könnten, um einer außer Kontrolle geratenen Klimakrise zu begegnen, versteht sich von selbst.
UDO KNAPP ist Politologe.