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11.09.2020 , 18:45 Uhr
David Graeber war der bekannteste lebende Ethnologe bzw. Sozial- und Kulturanthropologe. Umso bedauerlicher, dass sehr viel von dem, was in seinem Nachruf steht, ungenau oder falsch ist. Graeber geht nicht davon aus, dass Schulden automatisch Gewalt sind. Im Gegenteil: Als notwendiger Bestandteil des Tauschs gehören sie zu den Grundlagen des sozialen Lebens. Mit Gewalt und Zerstörung verbinden sie sich erst, wenn sie die „humane Ökonomie“ verlassen. Die „humane Ökonomie“ fokussiert auf die Entstehung von Personen, der Kapitalismus hingegen auf die Produktion von Objekten. Deswegen gab es in vielen nicht-kapitalistischen Gesellschaften Schuldenerlässe, oder die Schulden galten als Anerkennung von Gaben, die man nicht erwidern konnte. Für Graeber macht das einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Tempelstaat und einer Bank. Daher ist es ungenau zu sagen, Graeber hielte alle historischen und gegenwärtigen Gesellschaften für vergleichbar – das gilt nur, wenn Vergleich bedeutet, Unterschiede zu systematisieren. Im Gegensatz zu dem, was die Autorin annimmt, ziehen die meisten Ethnolog*innen den Einzelfall dem Vergleich vor. Graeber ist hier für sein Fach sehr untypisch. Graeber war auch kein Strukturalist – wer nennt sich denn heute noch so? – sondern stand in der amerikanischen Theorietradition, mit einem guten Schuss Marx und Mauss. Die Grundannahme des Strukturalismus ist keineswegs, dass „jedes Einzelbeispiel bereits das Ganze beschreibt“. Ich kenne auch niemanden in der Ethnologie/Anthropologie, der solöch eine Annahme vertritt. Im Gegenteil: Jeder Einzelfall zeigt uns eine von unendlich vielen Möglichkeiten, wie Menschen gesellschaftlich leben können. Der Einzelfall zeigt Potenziale auf, mit denen wir als Kinder unserer eigenen Gesellschaft nie gerechnet hätten. Das eben wollte Graeber in seinem Werk zeigen: Die Regeln des Kapitalismus, die uns so unerbittlich erscheinen mögen, sind im kulturellen Vergleich betrachtet ein ziemlich seltsamer Sonderfall.
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