: Spickzettel, im Schlamm begraben
Im August verwüstete die Flut weite Teile Südostdeutschlands. Viele Menschen verloren alles – von der Wohnung über die Kleidung bis zum Fotoalbum. Ein persönlicher Bericht über den Verlust der Gegenstände, an die sich Erinnerungen knüpfen
von einer Betroffenen der Flutkatastrophe (aufgezeichnet von NICK REIMER)
Ich bin im letzten Jahr nicht in Venedig gewesen. Klaus hatte die Kamera auf sein Stativ gestellt und war mit mir über die Piazza San Marco getanzt. Nachts. Ein wunderbares Bild. Jetzt liegt es draußen auf dem Haufen.
Ich bin nie die Enkelin meiner Großmutter gewesen. Als sie starb, war ich zu klein. Meine Erinnerung war das alte Vertiko, das in ihrer guten Stube stand. Auch Jahre später roch es noch ein bisschen nach dem Bohnerwachs. Jetzt liegt es draußen auf dem Haufen.
Ich bin auch nie ein Schmetterling gewesen. Klaus hatte mich immer so in seinen Liebesbriefen genannt: „mein kleiner bunter Schmetterling“. Klaus verstand es, wunderbare Liebesbriefe zu schreiben. Jetzt liegen sie draußen auf dem Haufen.
Um welches Buch es mir am meisten Leid tut? Gestatten Sie mir eine Gegenfrage: Welches Kind ist Ihr liebstes? Ich hatte eine Erstausgabe von Stefan Heyms „Collin“. Nach einer Lesung bin ich zu ihm gegangen, Herr Heym signierte mir das Buch. „Mit guten Wünschen“.
Großvater hat mir seine Bibel vererbt – die Familienbibel, wie er sagte. Auch da stand was drin: „Möge Gottes Segen stets bei Euch sein“. 212 Jahre alt ist das Buch geworden. Jetzt liegt es draußen auf dem Haufen.
Es gab Bücher, die in der DDR verboten waren, die mir Freunde aber trotzdem reinschmuggelten. Es gab Bücher, die ich im Antiquariat gekauft habe, in Warschau, Prag oder Paris. Es gab Fotobände, Lyrik und ein Lexikon. Meyers, mit Ledereinband, von 1920. Nichts davon ist geblieben.
Plattenspieler habe ich auch keinen mehr. Wozu auch, die Schallplatten sind ja weg. Der Schlamm hat die Platten unbrauchbar gemacht.
Als das Wasser kam, waren wir im Urlaub. Ich erinnere mich genau an die Situation. Es hatte eine unschöne Streiterei gegeben, ich versuchte die Kinder zu trösten. Klaus rief: Komm her, schnell! Mir passte dieser Ton nicht und ich sagte, lass mich in Ruhe. Schnell, komm, bitte, rief Klaus und das klang wirklich panisch. Ich bin zu ihm, im Fernsehen lief das Hochwasser.
Wir sind Hals über Kopf abgereist und, so schnell es ging, über die Alpen. Es war eine schreckliche Fahrt mit dieser Vorahnung. Doch die wurde von der Realität noch übertroffen: Die Mulde hatte ein Fenster eingeschlagen, das Wasser stand zwei Meter hoch.
Es geht mir gar nicht um den materiellen Schaden. Den werden wir schon irgendwie ersetzen. Viel schlimmer ist: Das Wasser hat mir meine Vergangenheit genommen. Meine Identität. Der Mensch erlebt so viel in seinem Leben, dass er einen Spickzettel für seine Erinnerungen braucht. Wenn ich im Fotoalbum blättere, kann ich den ersten Urlaub mit den Kindern noch einmal erleben. Wenn ich meinen blauen DDR-Ausweis durchblättere, kriecht die realsozialistische Beklemmung wieder ein bisschen hervor. Wenn ich in den Briefen nachlas, war das Quell für diesen Alltag: Klaus liebt dich. Oder zumindest: Er hat dich einmal wunderbar geliebt. Warum soll das nicht wieder kommen?
Mein Spickzettel ist jetzt ein großer, stinkender, schlammverkrusteter Haufen. Den wird die Müllabfuhr holen und mit anderen Spickzetteln vermischen. Die Erinnerungen werden dann auf der Halde vergraben. Ich muss noch einmal neu beginnen. Das, was war, werd ich nie wieder in den Händen halten.