: Eine neue Körperlichkeit
JUGENDKULTUR Die 50er Jahre waren auch eine Phase des gesellschaftlichen Umbruchs und der Revolte in den USA – wie eine Filmreihe zeigt, die das Filmmuseum Potsdam im Juli präsentiert
Ausgerissene Kinositze, marodierende Jugendbanden in den Straßen, Krawall und Remmidemmi – wenn das Filmmuseum im idyllischen Potsdam am 3. Juli im Rahmen einer Reihe zum amerikanischen Kino der 50er Jahre „Rock Around the Clock“ zeigt, dürfte mit solchen Exzessen zwar nicht mehr zu rechnen sein. Kinemathekenpublikum neigt schließlich zu einer gewissen Gesetztheit. Doch 1956, auf dem Höhepunkt der Halbstarkenwelle, machte der Musikfilm mit Bill Haley & His Comets auch in Deutschland mitunter dramatische Schlagzeilen. Seit dem Durchbruch von Bill Haleys neuer Musik, die Swing und Boogie elektrisierend auf den Kopf stellte, und Elvis Presleys erstem TV-Auftritt hatte die seit geraumer Zeit diffus im Schwange liegende Jugendrevolte ihren gemeinsamen Nenner gefunden: Rock ’n’ Roll – eine neue, den Körper unmittelbar angehende Ekstasetechnik, die bislang ungekannte Energien freisetzte und gebündelt ins Herz der Gesellschaft schoss.
Neue Körperlichkeit, die Entdeckung der Jugend als Lebensgefühl und Marktsegment (worum es in „Rock Around the Clock“ neben allen Musiknummern denn auch beeindruckend offen geht: Wie man Haley und seine Comets gegen den Widerstand des Establishments auf dem Markt durchsetzen kann), kurzum: die 50er als Phase gesellschaftlichen Umbruchs – sehr schön lässt sich das alles in der Potsdamer Filmreihe beobachten.
Nicht zufällig dreht sich Billy Wilders’ ebenfalls gezeigtes Noir-Meisterwerk „Sunset Boulevard“ (1950) um eine alternde, obsolet gewordene Stummfilmdiva, in deren einsam durchstreifter Villa die Vergangenheit drückend bis unter die Decke reicht. Reine, moderne Gegenwart dagegen der junge Marlon Brando als melancholischer Biker John in „The Wild One“ (1953), der am Vorabend des Durchbruchs von Rock ’n’ Roll zwar schon dessen Slang spricht, aber in den endlosen Motorrad-Streifzügen seiner Gang durchs amerikanische Hinterland eine leere, gegen nichts konkret und diffus gegen alles gerichtete Revolte fährt.
Wogegen er denn rebelliere, wird er einmal gefragt. Gegen was auch immer sich anbiete, lautet die trockene Antwort. Was in „Rock Around the Clock“ bereits auf den Begriff gebracht ist und auf seine kommerzielle Attraktivität hin abgeprüft wird, ist in „The Wild One“ noch eine Sache melancholischer Sinnsuche.
Großartige Körperfilme sind sie alle beide: Sie formulieren eine Programmatik willentlich herbeigeführter Entgleisung, die nicht mehr viel zu tun hat mit den zwar scheinbar frei flottierenden, aber stets hochdisziplinierten Körpern des Hollywood-Musicals der 40er Jahre. Gleich zu Beginn spannt „Rock Around the Clock“ einen herben Kontrast auf zwischen den arg steif und verschlafen umherswingenden Big-Band-Combos, deren dröge Tanzabende sich zusehends entvölkern, und dem jugendlich-ekstatischen Überschuss des Comets-Publikums. Am Ende steht eine triumphale Performance, bei der Contrabässe und Saxofone als geradezu orgasmische Tools zweckentfremdet werden – vom grobschlächtig freidrehenden Körper „außer Rand und Band“ (so der deutsche Verleihtitel) ganz zu schweigen.
Noch weiter ins Kraut schießen die Exzesse aus „The Wild One“, etwa wenn eine Bikergang sich volltrunken die Dingwelt einer Kleinstadt aneignet, Metalgelumpe zu obskuren Helmen wie aus einem Science-Fiction-Movie umwidmet oder sich gleich Frauenkleider überzieht, wie die intim eingeschworene Lederkerle-Gemeinschaft ohnehin allenfalls in Grundzügen heteronormativen Vorstellungen entspricht. Die wahre Attraktion – neben dem blutjungen Lee Marvin als hündisch-schlaksiger Biker-Maniker – ist allerdings Marlon Brando, dem das Meisterstück glückt, seinen teigig-bulligen Körper wie ein noch ungeformtes, sich alle Richtungen offen haltendes Begehren gazellenartig durch diesen Film gleiten zu lassen. Bildete Wilders „Sunset Boulevard“ den Schwanengesang aufs mimische, theatral-expressive Stummfilmschauspiel, etablierte Brando noch im Detail ein physisch-drängendes Spiel mit dem Körper, den zeitgleich eine ganze Generation als aufregendes Zukunftsversprechen ganz neu für sich entdeckte: Beim wilden, entfesselten Tanz zur neuen Beatmusik – oder auf den Straßen in den Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt nach der Kinovorstellung. THOMAS GROH
■ American 50s: Filmmuseum Potsdam, Breite Str. 1 A, bis 31. Juli www.filmmuseum-potsdam.de ■ „Rock Around the Clock“: 3. Juli, 21.15 Uhr; „The Wild One“: 9. Juli, 19 Uhr; „Sunset Boulevard“: 17. Juli, 17 Uhr