: Von Waterloo zur Troika
HEILIGE ALLIANZ Mit der Niederlage Napoleons begann das Zeitalter der Bruderhilfe und der humanitären Interventionen
■ geboren 1947, lebt als Journalist in Rom. Er schreibt regelmäßig für die taz, zuletzt über die Mailänder Expo. Auf Deutsch liegt vor: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: eine Geschichte unserer Zukunft“.
Verdammter Blücher! Ohne seine Attacke, mit der er vor zweihundert Jahren, am 18. Juni 1815, den Herzog von Wellington rettete – ohne diesen preußischen Feldmarschall wäre die Geschichte vielleicht andere Wege gegangen. Und das konstatieren wir nicht, weil Napoleon uns übermäßig sympathisch wäre – letztlich war er derjenige, der die Französische Republik zerstörte und noch dazu den schlechten Geschmack hatte, sich krönen zu lassen.
Nein, so wie die Schlacht von Waterloo ausging, war sie das Signal für etwas Neues in der Geschichte: Mit ihr begann das Projekt einer theoretisch durchdachten und politisch koordinierten Rückkehr zur Vergangenheit. Waterloo beschloss eine Ära, die es gleichzeitig wieder zum Leben erwecken wollte.
Tod oder Gladiolen
Zunächst war es die letzte große Schlacht eines Weltkriegs, die sich im Lauf eines Tages entschied, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang: Wie Cannae und Zama zwischen Rom und Karthago; wie Hastings, die Schlacht, die England normannisch machte; oder wie Pavia, die die Hegemonie der Habsburger über das Europa der Renaissance entschied. Der Kaiser, der Heerführer, der Condottiere – am Morgen vor der Schlacht wachte er auf (falls er Schlaf gefunden hatte) und am Abend war sein Schicksal entschieden: Tod oder Gladiolen.
Nach Waterloo wurden die Schlachten länger: drei Tage für Gettysburg (1.–3. Juli 1863) zwischen Nord- und Südstaatlern; zwei Tage für Sedan (31. 8.–1. 9. 1870) zwischen Deutschen und Franzosen; und so weiter bis zur Schlacht von Stalingrad, die mehr als vier Monate dauerte (September 1942 bis Januar 1943). In der modernen Welt wird es immer schwieriger, zwischen einer Schlacht und einem Feldzug zu unterscheiden. Und die Namen der sie führenden Feldherren scheinen unwichtiger zu werden – ja wenn man sich überhaupt erinnert, dann eher an die Verlierer: Von Gettysburg kennt man den Südstaatengeneral Robert Lee – aber den Gewinner, einen gewissen George Meade? El Alamein ist bekannt durch Rommel, von Stalingrad bleibt das Bild der Kapitulation durch Feldmarschall Paulus. Wie hieß der Sieger?
Waterloo war auch die letzte Schlacht, in der politische und militärische Führung in einer Person vereinigt waren. Schon der Neffe des großen Napoleon, Napoleon III., kümmerte sich bei Sedan um gar nichts mehr; und kein Hitler, kein Stalin, kein Saddam führten ihre Truppen persönlich in die Schlacht. In diesem Sinne war Waterloo tatsächlich der letzte Tag des Ancien Régime.
Und nun: Restauration
Und doch wäre Waterloo kaum das Kalenderblatt wert, wenn es nicht eben der Gründungsakt der Heiligen Allianz gewesen wäre. Drei Monate nach dem endgültigen Sieg über Napoleon schufen Österreich, Preußen und Russland eine bis dahin nicht gesehene Institution, die kein anderes Ziel hatte als die alte Ordnung wiederherzustellen: die Restauration von Monarchie und Feudalsystem. Denn in der Tat hatte es zuvor keine Koalition gegeben, die sich das Recht herausgenommen hätte, im Namen der humanitären Werte von „Gerechtigkeit, Liebe und Friedseligkeit“ in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten einzugreifen. Es war eben diese Heilige Allianz, die im Namen des Friedens 1823, 1830, 1848 Krieg gegen die sich erhebenden Völker führte; die im Namen der Liebe die Demokraten einkerkerte, wie es die Beschlüsse von Karlsbad (1822) vorsahen – mit der einst verteufelten, heute jedoch differenzierter gesehenen „Demagogenverfolgung“.
Die Intervention nicht aus rein machtpolitischen Gründen, sondern zum Zwecke des Guten hat seitdem eine erstaunliche Karriere gemacht. Zu Zeiten des Kalten Krieges folgte man diesseits wie jenseits der Mauer gerne dem erklärten Ziel der alten Autokratien, die kundgaben, „den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen und ihren Unvollkommenheiten abhelfen“ zu wollen. Die Heilige Allianz hat die westliche humanitäre Intervention erfunden wie die realsozialistische Bruderhilfe.
In Artikel I der Heiligen Allianz heißt es „Im Namen der unteilbaren Dreieinigkeit“ (nebenbei gesagt versammelten sich hier drei christliche Bekenntnisse): „Entsprechend den Worten der Heiligen Schrift, die alle Menschen sich wie Brüder zu betrachten heißen, werden die drei kontrahierenden Monarchen vereint bleiben durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderlichkeit, indem sie sich als Landsleute betrachten; sie werden sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Beistand und Hilfe gewähren; indem sie ihren Untertanen und Herren gegenüber sich als Familienväter betrachten, werden sie diese in demselben Geiste von Brüderlichkeit regieren, von dem sie erfüllt sind, um Religion, Frieden und Gerechtigkeit zu schirmen.“
Nicht mal ein Gespenst
Die Bruderparteien intervenierten dementsprechend in Ungarn (1956) und in der Tschechoslowakei (1968). Die Europäische Union schickt heute statt den Bruderparteien die Bruderbanken, um die Demagogen (sprich: Populisten) zu vernichten und die Ordnung im Namen der Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Und wie lange müssen wir noch unter der Herrschaft einer Heiligen Allianz leben? Zwei Dinge lohnt es sich dabei zu vergegenwärtigen: Die Koalition der heiligen Herrschaften zerbrach vor 161 Jahren ironischerweise auf der Krim. Obwohl der Zar sechs Jahre zuvor, 1848, dem österreichischen Kaiser die Haut gerettet hatte vor den Revolutionären in Ungarn, versagten ihm die Habsburger nun jede Unterstützung.
Und dann gibt es die berühmte Passage, die das Kommunistische Manifest von Marx und Engels eröffnet und die eben von dieser Heiligen Allianz spricht: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“ Die Allianz von heute hat zu ihrem Sieg allerdings kein Waterloo benötigt; und gegen ihre Herrschaft erhebt sich nicht einmal ein Gespenst. MARCO D’ERAMO
Übersetzung aus dem Italienischen von Ambros Waibel