Menschen sind auch nur aus Lehm

OPER Eine Ausgrabung als deutsche Premiere: der „Golem“ des rumänischen Komponisten Nicolae Bretan in der Neuköllner Oper

Was macht den Menschen zum Menschen? Die Frage ist so alt wie die Menschen selbst. Es gibt gewisse Distinktionsmerkmale wie die Einbildungskraft, die Fähigkeit also, sich Dinge vorzustellen und zu planen, die in der Zukunft liegen. Sie unterscheidet uns vom Krokodil und vom Wal. Daneben bauen wir Werkzeuge wie Algorithmen und Röntgenapparate, die von einem Vogel oder Affen in dieser Komplexität nicht nachgebaut werden könnten. Doch für die Evolutionsbiologen steht längst fest: Der Mensch ist ein Tier. Halt ein hoch entwickeltes. Im „Golem“ an der Neuköllner Oper (Regie: Paul-Georg Dittrich, Dramaturgie: Bernhard Glocksin, Arrangement: Tobias Schwencke) wird gerade das dem Menschen zum Verhängnis.

Der Rabbi Jehuda Löw – eine historische Figur – lebte im Prag des 16. Jahrhunderts und soll der Legende nach eine menschenähnliche Gestalt aus Lehm erschaffen haben, den Golem. Im Althebräischen bedeutet das Wort so viel wie „formlose Masse“, „ungeschlachter Mensch“, im modernen Sprachgebrauch nur noch „dumm“ oder „hilflos“. Sein Existenzzweck soll es gewesen sein, der jüdischen Bevölkerung mit seiner Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen, als seelen- und willenloser Diener.

Doch der Golem des rumänischen Komponisten Nicolae Bretan will leben, will zum Menschen werden, beginnt sich von seinem Schöpfer zu emanzipieren. Die 1924 im rumänischen Cluj uraufgeführte – und erst jetzt in Berlin als deutsche Erstaufführung zu sehende Oper von Bretan, einem hierzulande unbekannten Komponisten, setzt genau an jener Stelle des Mythos ein, an dem sich das unheilvolle Ende bereits abzeichnet. Der Golem hat Gefühle in sich entdeckt, und ihr Frühlingserwachen richtet sich ausgerechnet auf die Tochter des Rabbis, Anna. In seiner Zelle malt er mit Lehm den Namen der Rabbitochter an die Wände. Doch Anna, der das Umwerben des Golems anfangs noch zu gefallen schien, wurde von ihm berührt und geküsst und liegt nun krank in ihrem Bett. In ihrem Badezimmer versucht sie verzweifelt, sich die Zeichen ihres romantischen Zusammenseins mit Golem abzuwaschen.

Kein richtiger Mensch

Als Rabbi Löw, gesungen von dem Tenor James Clark, von dem Wunsch Golems erfährt, ein Mensch zu werden, kettet er ihn an und versucht ihn brutal in Schach zu halten. Nun ist es Anna, die ihn in seinem Verlies besucht und ihre Angst vor ihm überwindet. Doch sie wird immer kränker, ihr Verhalten immer destruktiver. Golem brüllt seinen Schöpfer voller Verzweiflung an: „Auch der Mensch ist aus Lehm“ – und fragt ihn, wieso er ihn erschaffen habe, wenn er kein richtiger Mensch sein dürfe.

Bei Bretan ist der Golem das Wesen, das ohne perfide Hintergedanken handelt. Martin Gerke stattet seine Figur mit einer kindlichen Emotionspalette aus, die bald pubertäre Züge annimmt, jedoch nie zur vollen Entfaltung kommen darf. Sein vibrierender Bariton ästhetisiert die Verzweiflung: Der Golem brüllt nicht ungestüm, er singt mit menschlicher Stimme – was auch eine Verabschiedung vom alten Golem-Mythos bedeutet, in dem der Golem stumm bleibt.

Anna, gesungen von der Sopranistin Ulrike Schwab, hat beinahe nur pantomimische Szenen. Anders als der Golem darf sie keine Arie zum Zustand ihres Innenlebens singen, was wirklich schade ist. Dank Videoinstallationen sind wir ihr jedoch nahe, wenn sie sich unter ihrem Bett oder hinter dem Vorhang versteckt oder in einer quälenden Szene versucht, sich die vom Golem infizierte Haut herauszuschneiden. Die Livevideoinstallationen von Mara Vlachaki sorgen für eine schwer zu überblickende Gleichzeitigkeit auf der Bühne. Das Bühnenbild besteht aus Golems Verlies, dem Studienzimmer von Rabbi Löw und Annas Schlafzimmer. Ergänzt wird dieser szenische Reichtum durch Videoeinspielungen in Nahaufnahme.

Der Golem, dieser mythisch-religiöse Frankenstein-Stoff, lässt sich auf ganz aktuelle Weise lesen: Einerseits als Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal des Menschen, andererseits als Thematisierung einer wachsenden Bedrohung, in die wir uns selbst hineinmanövrieren. Anfang des Jahres warnte der Physiker Stephen Hawking vor der Verselbständigung künstlicher Intelligenz, die den Menschen an evolutionärem Tempo, Intelligenz und – der größten Bedrohung überhaupt – an Effizienz schon in wenigen Jahrzehnten überholt haben wird. Das Zeitalter des „Posthumanismus“, in dem wir Menschen uns körperlich mit superintelligenten Maschinen verbinden, ist in greifbare Nähe gerückt. Hawking warnt, es könnte das Ende des Homo sapiens sein. ANNE-SOPHIE BALZER

■ Aufführungen bis 5. Juli, Karten von 13 bis 24 €, neukoellneroper.de