: Akrobatik und Seifenoper
SHOWSPORT Die Wrestling-Szene lädt zur Schwergewichts-Weltmeisterschaft ins Huxleys. Im Vergleich zu den USA ist das Setting hier kleiner und die WrestlerInnen nahbarer. Auch der Eintritt und das Bier sind erschwinglich
VON PABLO WANKE UND DONATA KINDESPERK
Es ist 1989, Deutschland befindet sich in der Umklammerung der Birne aus Oggersheim. Dann kommt Wrestling. Ein kleiner Kabelsender namens Tele5 ballert eine andere, knallbunte, ölig glänzende Realität in die Kinder- und Wohnzimmer.
Männer, die mit arrogantem Gestus ihre Dauerwelle über die Schulter werfen, glitzernde Trikotagen tragen und in die Kamera zwinkern, als wüssten sie exakt, wie es um die Frauenherzen vorm Bildschirm steht. Muskulöse, stark geschminkte Frauen mit Gesichtstätowierung, die ihre Kontrahentinnen durch die Luft werfen und rumbrüllen. Alle vermöbeln sich gegenseitig. Das Publikum flippt aus. Die Reaktion der Eltern: Unverständnis ob des neuesten, die Kinderköpfe zumüllenden Kulturimports. Für die zwischen Ölpreiskrise und Tschernobyl geborenen Kinder schmeckt es nach Freiheit. Sehnsuchtsort der Heranwachsenden sind noch die USA: Coca-Cola, Nike, Beverly Hills und McDonald’s – alles besser und leuchtender als vor der Haustür.
Wer den Rausch von damals nie vergessen konnte oder einfach Lust auf eine knallbunte Spandex-Soap hat, ist beim „GWF Mystery Mayhem“ der German Wrestling Federation (GWF) in Berlin richtig: Nur einen Powerslam vom Hermannplatz entfernt treten am Samstag die Wrestler Orlando Silver aus Mexiko, Crazy Sexy Mike, Caribbean Killer Rambo und Pascal Spalter (Publikumsgesang: „Spalten! Spalten!“) und weitere in den Ring – es geht unter anderem gleich mal um die Schwergewichts-Weltmeisterschaft.
Erotisch niedergestreckt fühlt sich gewiss nicht jedeR, wenn Crazy Sexy Mike auftritt, aber Bühnenpräsenz hat er. Pascal Spalters Rat an Wrestling-Anfänger lautet: „Leuten, die sich für gute Schauspieler halten, würde ich Wrestling nicht empfehlen. Man muss schon ein sehr guter Schauspieler sein.“ Womit sich die Frage nach der Authentizität des Geschehens beantwortet. Natürlich wird inszeniert. Zum Verlierer wird, wer aufgibt oder ausgezählt wird. Dreimal schlägt der Ringrichter dafür mit der flachen Hand auf den Ringboden, berühren beide Schultern des Gegners solange die Matte, steht der Sieger fest. Crazy Sexy Mike erzählt: „Bei uns ist das anders als in den USA. Unsere Kämpfe sind nicht abgesprochen. Irgendwann hat man keine Luft mehr und bleibt einfach liegen.“ Klingt fast nach mehr Sport als Show.
Groß wurde Wrestling in Deutschland in den 1960ern. Nur nannte man es, in britischer Tradition, damals noch „Catchen“. Ab den 80ern setzte sich dann die amerikanische Variante durch. Ein Jahrzehnt später gilt Deutschland als der drittgrößte Wrestlingmarkt der Welt. Wrestling kann Sport oder auch Schach sein, leiht sich sowohl Elemente der Komödie als auch der Tragödie und nimmt manchmal sogar Anleihen beim Ballett. Es geht um Inszenierung und Athletik, um Akrobatik und Seifenoper. Dabei werden ästhetische Grenzen und klassische Zuschreibungen hinweggefegt. Um den perfekten Körper schert sich hier niemand. Lackstiefel, Spandexhosen und schwitzende, rasierte Oberkörper stellen hier keinen Widerspruch zur inszenierten Maskulinität dar. Die regelmäßig stattfindenden „Ladysmatches“, Frauenkämpfe, kommen hingegen recht frei von gängigen Geschlechterklischees daher.
Die Geschichten sind trashig-absurd, gespickt mit Intrigen und Racheplänen. Erzählerische Konsistenz ist zweitrangig – unterhaltsam soll es sein. Obwohl nicht gänzlich vom amerikanischen Vorbild emanzipiert, wird hier Wrestling in eigener Darreichungsform geboten. Das Setting ist kleiner und die WrestleInnen nahbarer, die Eintrittspreise erschwinglich und der Grad der Professionalisierung geringer. Und das Bier ist günstig. Das Berliner Wrestling-Publikum ist auffallend heterogen – auch Kinder sind darunter. Es können Autogrammjäger und Begeisterte ohne jegliche ironische Distanz beobachtet werden, aber das ist im abgeklärten Berlin ja mal ganz angenehm.
Seit die GWF 1994 für 100 DM das „Atelier“ mietete und die erste eigene Show schmiss, hat sich eine vitale Fankultur etabliert. Im Chor stimmt das Publikum Gesänge an („Ivan, du geile Schlange! Keiner kann so oft und so lange!“), echte Kenner wedeln wissend mit überdimensionierten Kirmeskuscheltierschlangen über ihren Köpfen. Sie ziehen mit Lichterketten behängte Stühle hervor, um die Teilnehmer derart anzufeuern. Und sie kommentieren mit Schildern, wenn es ihnen gefällt: „Geiles Match!“ Das ist skurril und schön gleichzeitig.
Der Gründungsmythos der GWF hat übrigens nichts mit Satellitenschüsseln oder Kabelfernsehen zu tun: Die Keimzelle war das elterliche Wohnzimmer, das von den Brüdern Mike und Ahmed durchturnt wurde. Sie hatten Spaghettiwestern gesehen und gingen in den Rollen von Bud Spencer und Terrence Hill auf. Ihr Vater, anfangs skeptisch, enthüllte seinen Söhnen erst Jahre später, vor seinem Umzug aus dem Libanon nach Deutschland selbst Wrestler gewesen zu sein.