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Archiv-Artikel

Vor dem Sex kommt das Gebet

EROTIK Der Kirchentag ist auch ein Ort für kurze Flirts und One-Night-Stands im Treppenhaus. Manchmal entwickeln sich aber auch echte Gefühle und die Liebenden finden sich vor dem Traualtar wieder

VON HANNAH WEINER

Kurze Röcke entblößen nackte Beine, schwitzend und dicht gedrängt stehen die Menschen nebeneinander, ihre Haut berührt sich. Es ist heiß und eng dieser Tage in den Stuttgarter U-Bahnen. Ein Hauch von unfreiwilliger Erotik hängt zwischen den Tausenden von Körpern, die sich durch die sommerliche Stadt schieben.

Es ist Evangelischer Kirchentag – und in der Luft liegt Liebe. Denn wenn viele Menschen, besonders junge, aus ganz Deutschland für fünf Tage zusammentreffen, gibt es gelegentlich neben geistigem Austausch eben auch den von Körperflüssigkeiten, neben Bibelarbeit auch wilde Affären und neben Psalm 23 haucht man sich gegenseitig Liebesschwüre ins Ohr.

„Man findet hier zusammen“, sagt Tobi und grinst, er sitzt während der Abendstunden mit seinen Freunden auf einer Gänseblümchenwiese hinter dem Stuttgarter Schloss. Zwischen seinen Fingern hängt eine Zigarette, er beugt sich langsam nach vorne und erklärt: „Wenn über 120 junge Leute in einer Schule schlafen, lernt man sich eben näher kennen.“ Er nimmt einen Schluck Bier aus seinem weißen Plastikbecher.

Mit mehr als 30 Jungs und Mädchen ist der 17-Jährige aus einer evangelischen Gemeinde im Norden Berlins nach Stuttgart gekommen, mit noch anderen Jugendlichen sind sie in einem Stuttgarter Schulgebäude untergebracht. Fünf Tage, vier Nächte, Klassenfahrtflair. Ein Hauch Lloret de Mar zwischen Gottesdienst und Dialogveranstaltung.

Tobi, das rot-weiße Kirchentagstuch um den Kopf gewickelt, hockt zwischen seinen angeschwipsten FreundInnen, einer Musikbox und leeren Gin-Flaschen. Ob sie nur zum Feiern kommen? Nö, also, mindestens eine Veranstaltung pro Tag wollen sie schon mitnehmen. Wichtiger sei aber, dass man viele Leute kennenlernt. Manchmal vergucken sich dann zwei, sagt Tobi.

Meistens enden die Liebeleien aber schnell. Zumindest, wenn man Luca glaubt: „Unglücklich verliebt gibt’s nicht, weil am nächsten Tag sowieso alles vorbei ist.“ Seine Kumpels, die T-Shirts mit der Aufschrift „Mc Leber Fit“ tragen, lachen laut. Wo kaufen wir denn jetzt Bier?, fragt einer.

Luca will allerdings erst einmal die Geschichte von Lulu und Manu erzählen: 2013 beim Kirchentag in Hamburg, „Wonderwall“-Singen und Gitarre spielen an der Binnenalster, der erste Kuss. So weit, so romantisch. „Das war aber noch lange nicht alles“, sagt er. Dann seien sie nämlich in der Schule auf dem Dachboden verschwunden. „Wir haben schon verdammt viel Spaß hier.“ Luca seufzt. Auf der Brust seines Kumpels baumelt ein silbernes Kreuz.

Neben ihnen sitzt Toni. 18 ist sie, die blonden Haare hat sie zum Dutt gebunden und hellroten Lippenstift aufgelegt. „Hier finden sich schon viele, um Spaß zu haben“, sagt sie. Zum Beispiel die beiden, die während einer der letzten Kirchentage im Treppenhaus Sex hatten, während die anderen in der Nähe waren. „Alle wussten: Jetzt passiert es. Aber das war okay.“

Doch der Kirchentag erzählt nicht nur Geschichten von One-Night-Stands oder kurzen Flirts, sondern auch die von echten Gefühlen. Während die einen auf der Suche nach flüchtigen Bekanntschaften sind, sehen andere Veranstaltungen wie diese als Chance, ihre große Liebe zu finden. Birgit Broyer zum Beispiel. 46 Jahre alt, aus Stuttgart, sie lernte ihren heutigen Exmann 1988 auf dem Christival bei der Bibelarbeit kennen. „Der Kirchentag bietet eine große Möglichkeit“, sagt sie. Im normalen Leben sei die Auswahl für Christen viel kleiner und hier seien wichtige Werte schon von vornherein gegeben. „Es soll ja etwas Ernstes werden und auf Ehe hinauslaufen.“

Der 22-jährigen Pfadfinderin Franziska, die Eis, Club Mate und Kaffee verkauft, ging es weder um Ehe noch um Sex, als sie 2009 auf dem Kirchentag arbeitete. Man hatte sie mit einem Jungen zum Helferdienst eingeteilt. Er war damals 17, sie 16. Es wurde eine fünfjährige Liebesgeschichte daraus, mit allen Höhen und Tiefen. „Er war meine erste große Liebe“, sagt sie, lacht und sagt dann: „Leider war es für mich mehr als für ihn.“

Auch Franziskas älterer Bruder Thomas beobachtet die christlichen Liebesgeschichten auf den Kirchentagen schon länger. „Es kommt wirklich häufiger vor, dass Beziehungen entstehen.“ Er kenne das aus seinem Bekanntenkreis.

Nicht nur die Geschwister aus Baden-Württemberg sind jedes Mal auf dem Kirchentag. Auch Franziskas erste Liebe ist wieder dabei. Sie reden aber nicht mehr über das, was war, sagt sie. Trotz all der romantischen und erotischen Abenteuer scheint nämlich zu gelten, was Luca aus Berlin zum Abschied noch gerufen hat: „Was in Stuttgart passiert, bleibt in Stuttgart.“