ANWEISUNGEN ZUR ENDGÜLTIGEN UMWELTVERNICHTUNG UND WAFFENBESTELLUNGEN VON KRIMINELLEN AUS KRISENGEBIETEN : Die Angst des Eismanns vorm Elfmeter
ULI HANNEMANN
Willst du ein Eis?“, frage ich.
„Wir haben gerade erst gefrühstückt“, sagt sie.
„Aber du willst doch ein Eis“, sage ich.
„Eigentlich nicht“, sagt sie.
„Ich spendier dir auch eins“, sage ich.
„Danke“, sagt sie, „aber ist echt nicht nötig. Ich will ja gar keins.“
„Komm“, sage ich. „Ich würde mir dann auch selber eins kaufen.“
„Die Schlange ist aber ziemlich lang“, sagt sie.
„Ich will aber ein Eis“, sage ich, und wir stellen uns an, hinter den wenigen Kindern und den vielen Erwachsenen.
„Ich will aber ein Eis“ zu sagen, fühlt sich auf nostalgische Weise regressiv und damit einfach verdammt gut an. Man zerrt das ohnmächtig bettelnde Gequengel aus den Tiefen der eigenen Kindheit hervor, verfügt aber gleichzeitig über die Macht und die Mittel, sich den Wunsch beliebig zu erfüllen.
Für Erwachsene ist das Eis ein Elfmeter, bei dem der Torwart an den Pfosten gefesselt ist. Sie können Geld von der Bank abheben und sich fünftausend Kugeln Eis kaufen. Sie können sich einen Kredit erschwindeln oder sich prostituieren. Sie können sich einer Söldnerarmee anschließen, ein Land überfallen, das über große Speiseeisreserven verfügt und sich das Eis mit Gewalt einverleiben, viele tausend Kugeln, und danach die Eisdiele niederbrennen.
Die meisten verdienen sich ihr Eis jedoch mit typischen, schwer begreiflichen Erwachsenenberufen. Sie sitzen an aufgeräumten Schreibtischen, gucken wichtig und controllen irgendwas. Neben dem Computer steht ein kleines Schälchen mit nach Farben sortierten Büroklammern. Mit den gelben Büroklammern heften sie Lügen und Halbwahrheiten aneinander, mit den grünen Anweisungen zur endgültigen Umweltvernichtung und mit den roten Waffenbestellungen von Kriminellen aus Krisengebieten. Ordnung ist der halbe Tod …
… und so ein Leben schon ein wenig traurig. Kein Wunder, dass unser Verlangen groß ist, die unbeschwerte Kindheit wiederaufleben zu lassen. Noch einmal wollen wir die unschuldige Freude über ein Eis nachempfinden. Deshalb spürt man auch die Ungeduld gegenüber den wenigen Kindern in der Schlange: „Was wollt ihr, ihr seid doch schon Kinder. Wir aber brauchen das Ritual.“
Ich schubse zwei kleine Mädchen, die zu lange brauchen, sanft beiseite und schiebe mich an den Tresen vor. „Ich will ein Eis“, sage ich. Und spüre nach, wie sich meine Worte anfühlen. Hm. Banal. Es ist nicht mehr dasselbe. Früher hatte man es nämlich nicht in der Hand. Als Kind bettelte man um das Eis. Das war der Unterschied, das verknappte das Gut und machte es wertvoll. Darüber, ob man es bekam, entschieden andere. Doch heute taugt das Eis nicht mehr zum Symbol für abgegebene Verantwortung, die Wonnen der Unmündigkeit sind irreversibel dahin. Der Führer ist tot. Wir können uns jederzeit ein Auto kaufen, Sex oder Drogen. Doch wir wollen unbedingt ein Eis. Nicht weil es so gut schmeckt, sondern weil in uns ein längst sinnentleerter Sehnsuchtsimpuls weiterlebt. Auch wenn das hier tatsächlich das beste Eis der ganzen Stadt ist.
„Zey make it himself“, versucht hinter uns ein junger Mann seinen ausländischen Gästen zu erklären, dass das Eis hier hausgemacht ist. So verstehe ich ihn jedenfalls. Die Freunde lachen. Ob sie ihn verstanden haben oder sich nur wie Kinder auf das Eis freuen, weiß ich nicht.