: Der kalte Wind der Freiheit
STIMMGEWALT Neue Musik in alten Hallen: Für ein großes Jubiläumskonzert zum 90-jährigen Bestehen des Ensembles kehrte der Rundfunkchor zurück zur alten Wirkungsstätte – in das Funkhaus an der Nalepastraße
Als wir den sogenannten Kultursaal betreten, riecht es plötzlich nach DDR. Unmöglich zu sagen, woran es liegt. Ist es der Lack, mit dem einst die Holzverschalung der mindestens sechs Meter hohen Wände gestrichen wurde? Oder die ewig langen, ehemals weißen Gardinen, die vielleicht das letzte Mal vor der Wendezeit gewaschen wurden?
Wir stehen im ehemaligen Probensaal des Rundfunkchors auf dem weitläufigen Gelände des stillgelegten Funkhauses in der Oberschöneweider Nalepastraße. Hans-Hermann Rehberg, der Direktor des Chores, und zwei seiner damaligen KollegInnen erzählen von früher. Wie großartig es war, auf diesem Gelände zu arbeiten, mit der Kantine unter dem Probensaal und der Spree genau daneben. Sogar ein Schwimmbad und eine eigene Kfz-Werkstatt gab es für die Rundfunkangestellten; schließlich war man staatstragend.
Niemand sagt es, doch sicher werden damals, zu Beginn der neunziger Jahre, viele Trauer getragen haben über den Umzug des Chors ins Haus des Rundfunks in der Masurenallee. Wenig später wurde das Gelände an der Nalepastraße endgültig stillgelegt.
Das Herzstück lebt
Doch das Herzstück des Funkhauses lebt immer noch. Die Studios sind für ihre bauliche Qualität berühmt und werden immer wieder für Aufnahmen genutzt, unter anderem von Daniel Barenboim. Nun ist der Rundfunkchor für seine Jubiläumsveranstaltung zum 90-jährigen Bestehen des Ensembles mit großem Bahnhof in die historischen Hallen zurückgekehrt. Das Programm, das sich vom Nachmittag bis in den späten Abend erstreckt, steht unter dem Motto „Liberté“, was möglicherweise vor allem auf die politische Vergangenheit des Ortes gemünzt ist, sich im musikalischen Programm aber auf recht eigentümliche Weise spiegelt. Mit dem US-amerikanischen Starorganisten Cameron Carpenter, der seine eigens für ihn gebaute Touring-Orgel mitbringt, und dem Komponisten David Lang hat man etwas transatlantischen Glamour dazugeladen.
Vier Dirigenten – alle männlich – bestreiten den Abend, darunter der bisherige Chefdirigent Simon Halsey, der am gestrigen Sonntag seinen offiziellen Abschied in dieser Funktion beging, und der jugendliche neue Chef, der Niederländer Gijs Leenaars. Musikalisch gibt es natürlich gar nichts zu meckern. Der Chor singt viel Poulenc („Liberté!“) und etwas Pepping, das können sie toll, Carpenter orgelt seinen Messiaen so durch den phantastisch schönen großen Sendesaal, dass es scheint, als stünde das letzte Gericht kurz bevor, und Halsey samt sechs Solodamen des Chores geben im kleinen Saal ein Stück aus Christian Josts „Hölderlin“ so filigran zum Besten, dass man ganz vergisst, wie unbequem es doch ist, auf dem Boden zu sitzen.
Dieses Stück aber heißt „Fünf Pforten einer Reise ins Innere der Angst“. Und gerade vorher hatte David Lang erzählt, dass die Texte der Nationalhymnen, mit denen er sich für die Auftragsarbeit „The National Anthems“ beschäftigte, vor allem von Gewalt und Angst handeln. Tatsächlich klingt die deutsche Erstaufführung dieses Werks dann auch ebenso unheilbar traurig wie Langs „Little Match Girl Passion“, die vom Nachwuchsensemble des Chores nachmittags aufgeführt wurde.
Auch Hugo Distlers „Totentanz“ und Ernst Peppings „Matthäuspassion“ sind eher das Gegenteil von Partymusik. Und so sind, paradoxerweise und quer zum Anlass liegend, Trauer, Todesnot, Angst und Endzeitgefühle die vorherrschenden Impressionen, die man aus diesem musikalisch an sich sehr eindrücklichen Konzertmarathon mitnimmt. Aber was bedeutet das nun für das Motto dieses Jubiläumsevents? Wenn man es in Verbindung mit der dargebotenen Musik ernst nähme, müsste man sich die Freiheit als etwas ernsthaft Bedrohliches vorstellen. Schon bläst ein eisiger abendlicher Maiwind von der Spree.
KATHARINA GRANZIN