: Mit den Ohren im Gefängnis
ERINNERUNG Wo heute ein Verkehrsübungsplatz ist, befand sich einst das zentrale Frauengefängnis Barnimstraße. Eine Audio-Inszenierung lässt dessen wechselvolle Geschichte wiederauferstehen. Heute ist die Eröffnung
■ Der Audioweg zum Frauengefängnis Barnimstraße wird heute am Samstag um 14 Uhr eingeweiht. Neben Zeitzeugen kommen dabei auch der Sozialpsychologe Harald Welzer und Jutta Limbach, von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, deren Urgroßmutter im Frauengefängnis inhaftiert war, zu Wort.
■ Bereits 2007 wurde der Kunstwettbewerb für den Gedenkort Barnimstraße ausgeschrieben. Gewinner Christoph Mayer arbeitete mit seinem Team zweieinhalb Jahre an dem Vorhaben.
■ Der Audioweg ist ein dauerhaftes Projekt. Das Gelände steht Besuchern von Montag bis Samstag, 10–18 Uhr, offen. Der Eintritt ist frei. Zur Eröffnung kann man den Audioweg am Samstag und Sonntag von 9 bis 21 Uhr gehen. (rom)
VON RONNY MÜLLER
„Überqueren Sie die Straße am Ende des Bürgersteigs. Wenn die Ampel an ist, gehen Sie bei Grün.“ Es klingt wie eine normale Anweisung auf dem Platz der Jugendverkehrsschule Friedrichshain – hier in der Nähe des Alexanderplatzes, versteckt hinter Plattenbauten, üben sich normalerweise Kinder im Straßenverkehr.
Diese Aufforderung ist jedoch kein Teil einer Verkehrsübung. Sie gehört zu einem Audiorundgang, der an das Frauengefängnis erinnert, das hier einst in der Barnimstraße stand und von dem heute nichts mehr übrig ist. Ein Rasenstück lässt lediglich die Umrisse des ehemaligen Innenhofs erahnen, einige Pappeln markieren die Grenze der alten Gebäudemauer. 1974 wurde das Gefängnis geschlossen und abgerissen. Vier Jahrzehnte später erinnert der österreichische Künstler Christoph Mayer, der bereits mehrere ähnliche Projekte erarbeitet hat, mit dem Audiorundgang an das Gefängnis.
Aus alten Gebäudeplänen, Geschichtsdokumenten und Zeitzeugeninterviews hat Mayer gemeinsam mit vierzehn Mitarbeitern einen Rundgang gestaltet, der die Besucher mittels Kopfhörern über das Gelände des ehemaligen Gefängnisses führt und eine Vorstellung von der Geschichte des Hauses vermittelt. „Wir wollen die Geschichte des Gefängnisses in den Leuten entstehen lassen“, sagt Thomas Wendrich, der als Autor an den Texten des Audioführers mitgearbeitet hat.
Das Frauengefängnis war ein Spiegel der wechselnden Gesellschaftsordnungen, die das Haus erlebte. 1864 erbaut und drei Jahre später als „Königlich-Preußisches Weiber-Gefängnis“ umgebaut, saßen Frauen im wilhelminischen Kaiserreich vorwiegend wegen Prostitution und Abtreibung hier ein. Später führten meist politische Gründe zu einer Haft in der Barnimstraße. Rosa Luxemburg als bekannteste Insassin verbüßte gleich zwei Haftstrafen hier, zur Zeit der NS-Diktatur wurden viele Widerstandskämpferinnen inhaftiert, in der DDR Republikflüchtige.
Einige Texte des Audiorundgangs sind aus historischen Fakten und Schicksalen verdichtete exemplarische Biografien, eingesprochen von Schauspielerinnen, für andere griffen Mayer und Wendrich auf persönlich erzählte Zeitzeugenberichte zurück.
Einer davon ist die Geschichte von Inge Stürmer, die bei einem Fluchtversuch von DDR-Grenzern aufgegriffen wurde und ins Gefängnis kam. Sehr plastisch erzählt sie von den Beweggründen und dem Verlauf ihrer missglückten Flucht. Für ihre Inhaftierung bringt sie verblüffend viel Verständnis auf: „Wir waren ja zu Recht eingesperrt, nicht wie Rosa Luxemburg. Die war zu Unrecht eingesperrt.“ Wenn sie aber erzählt, wie ihr eine Staatsbedienstete vor der Haft ihre Kinder wegnimmt, bricht ihre Stimme.
Stürmer führt die HörerInnen Gänge und Flure des ehemaligen Gefängnisses entlang, Treppen hinunter und schließlich in die von ihr gefürchtete Dunkelzelle. Aus den Beschreibungen der Zeitzeugen und den Anweisungen des Erzählers einen Rundgang durch ein Gefängnis werden zu lassen, ist die Aufgabe, die Mayer den BesucherInnen abverlangt: „Man muss sich konzentrieren, wie bei einem Videospiel.“
Dass ein Audioguide seine BenutzerInnen eine Szenerie auf mehreren Sinnesebenen erleben lässt und der Rundgang die HörerInnen in eine aktive Entdeckerposition versetzen kann, ist eben der Vorteil gegenüber dem klassischen Lesestoff auf Museumstafeln. Wobei Christoph Mayer darauf pocht, dass sein Projekt noch deutlich aufwändiger gestaltet sei als etwa die in Museen üblichen Hörrundgänge. Zweieinhalb Jahre haben er und sein Team an dem Audioweg zum Frauengefängnis Barnimstraße gearbeitet, finanziert vom Hauptstadtkulturfonds, dem Kultursenat und dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.
Für BesucherInnen ist der Audioweg auf dem ehemaligen Gefängnisgelände in erster Linie ein Experiment. Wer sich darauf einlässt, betritt einen Verkehrsübungsplatz, nach knapp neunzig Minuten verlässt er ein Gefängnis.