: Keine Mörder und Putschisten, nirgends
Es hängt eben alles immer von der Perspektive ab. Das bewies jetzt wieder einmal ein Kommentator in der New York Times, der die These bestreiten wollte, wonach die Republikaner immer mehr nach rechts driften, während die progressiven Demokraten moderat in die Mitte rutschen. Das sei doch völlig falsch! In Wirklichkeit seien die Demokraten die wahren Extremisten. Die Beweisführung ging dann so: Seit 20 Jahren, seit der Zeit des populistischen Republikaneranführers Newt Gingrich, seien die Republikaner doch gar nicht sehr viel weiter nach rechts gerutscht, während Obama doch sehr viel linker sei als Bill Clinton. Ergo: Die Demokraten, nicht die Republikaner werden immer extremer.
Das hat schon was: Tatsächlich ging es vom Ultrarechten Gingrich bis zur Tea-Party-Dominanz bei den Republikanern gar nicht mehr sehr viel weiter nach rechts, das wäre kaum möglich. Rechts von der Tea-Party ist ja nur noch der Ku-Klux-Klan. Dann kommt schon die Wand. Wenn man ausreichend lang den Rechtsradikalismus fokussiert und sich an ihn gewöhnt, dann scheint er offenbar irgendwann zur Mitte zu werden.
Die Ordnung der Diskurse leistet dazu einen gehörigen Beitrag – die Ordnung dessen also, was im medialen Feld als anerkannte, „vernünftige“ Position durchgeht. Zwar gibt es ja nichts, was nicht gesagt werden könnte, aber doch die feine Linie, die das „Vernünftige“ vom „Absurden“ trennt. Was jenseits dieser Linie situiert ist, darf dann, obwohl es natürlich nicht sensu stricto verboten ist, nicht gesagt werden.
Nur ein Beispiel: Würde man sagen, die Innenminister der Europäischen Union nähmen den Tod von Tausenden Bootsflüchtlingen nicht nur billigend in Kauf (das darf man sagen), sondern führten das Sterben vorsätzlich herbei – sie wollen die Toten! –, dann würde man eher Kopfschütteln ernten. Aber tatsächlich ist es natürlich so. Die EU-Innenminister haben Druck auf Italien ausgeübt, die Operation Mare Nostrum zu beenden und jede Seenotrettung zu unterlassen. Denn Rettung „ermutige“ die Flüchtlinge, so der britische Vizeinnenminister, sei „Beihilfe zur Schlepperei“, so der deutsche Innenminister Thomas de Maizière. Soll heißen: Wenn Flüchtlinge wüssten, dass sie eine hohe Überlebenschance hätten, würde sie das „ermutigen“. Und was genau würde sie dann „entmutigen“? Bingo: viele Tote. Das ist die Logik. Aber so richtig sagen darf man das nicht, das wäre doch zu arg, zu radikal. Damit würde man sich vom harmlosen linksliberalen Humanistenmainstream doch schon ein bisschen zu weit entfernen, insinuierte man, unsere traurig talentfreien Staatsdiener seien so etwas Ähnliches wie Mörder.
Anderes Beispiel: Es spricht ja viel dafür, dass die EU-Finanzminister gegenüber Griechenland so etwas wie einen Staats-, einen Finanzputsch orchestrieren. Ja, Putsch! Man lässt eine gewählte Regierung ja nicht nur in Verhandlungen völlig auflaufen (was zwar unschön, aber durchaus im Rahmen des Legitimierbaren ist), man organisiert nicht nur eine Desinformations- und Lügenkampagne gegen sie (was unschön und darüber hinaus schon ziemlich grenzwertig ist), sondern man setzt auch die Europäische Zentralbank ein, um Griechenland und seine Banken von Liquidität abzuschneiden. Kurzum, man benutzt die EZB, die sich in Politik eigentlich nicht einmischen darf, um die griechische Regierung zu erpressen (was wider alle Regeln ist). Was früher also Obristen und Generale erledigten – nämlich demokratisch gewählten Regierungen den geladenen Revolver an die Schläfe zu halten –, das machen in modernen Zeiten Zentralbanker. Das könnte man schon eine Art Putschversuch nennen, würde man sich mit solchen als „überzogen“ bezeichneten Urteilen nicht außerhalb der Diskursordnung stellen. Das alles, wohlgemerkt, in einem medialen Umfeld, in dem jeder Unfug und jede Lüge über die griechische Regierung – etwa über Finanzminister Varoufakis – ihre sofortige Verbreitung finden und aus keinem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ wegzudenken sind.
Der französische Philosoph Michel Foucault hat in der „Ordnung des Diskurses“ (1970/71) ausgeführt, wie die „Kontrolle der Diskurse“ entsteht, ohne dass es an irgendeinem Punkt identifizierbare „Kontrolleure“ gibt. Die Ordnung des Diskurses wird im Diskurs selbst erzeugt, es gibt keinen Zentralort der Macht, aber „Machteffekte“, als deren Folge sich herauskristallisiert, was gesagt werden darf und was ungesagt bleiben muss, wer als anerkannter und respektierter Sprecher mit Autorität erscheint und wer umgekehrt allenfalls als schräger Querdenker durchgeht.
Weshalb ich weder Mörder noch Putsch sage.
ROBERT MISIK