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Archiv-Artikel

Edelweiß, Enzian und Eisenhut

BOTANIK Im Brockengarten auf dem höchsten Berg Norddeutschlands wachsen 1.800 Hochgebirgs-Pflanzenarten aus der ganzen Welt – von den Anden bis zum Himalaja

VON REIMAR PAUL

Gleich nach Beginn der Führung verziehen sich bei einigen aus der Besuchergruppe die Mundwinkel leicht nach unten. Sie haben im Brockengarten offenbar wild wuchernde Stauden, Rankengewächse und eine üppige Blütenpracht erwartet und wirken nun etwas enttäuscht. Denn auf den ersten Blick wirkt der Garten auf dem höchsten Berg des Harzes wenig spektakulär. Reichtum und Reiz des rund 1.000 Quadratmeter großen Areals erschließen sich erst Schritt für Schritt. Und das am besten im Rahmen eines Rundgangs mit einem sachkundigen Ranger der Nationalpark-Verwaltung.

Gunter Karste ist so ein Auskenner. Er geleitet und begleitet seit vielen Jahren Gäste durch den Brockengarten. Das raue Klima auf dem 1.141 Meter hohen, früher auch Blocksberg genannten Brocken entspreche in etwa dem auf einem 2.500 Meter hohen Alpengipfel, sagt der Biologe Karste: durchgängig niedrige Temperaturen, Nebel, häufiger Niederschlag und viel Wind. Deshalb wachsen hier auch Pflanzen, die es sonst nur im Hochgebirge gibt. Aber eben keine großen Blumen, keine bunten Büsche und schon gar keine Bäume.

Der „Teufelsbart“ ist giftig

„Das hier ist die Brockenanemone“. Karste zeigt auf einen kleinen Hügel. Auf dicht behaarten, nur wenige Zentimeter hohen Stielchen thronen schneeweiße Blütenkelche, diese wiederum umschließen winzige gelbe Staubblätter: Wie ein gelber Haarschopf sieht das Innere der Blüte aus.

„Kleine Alpenkuhschelle“ ist ein anderer Name für die Blume, die in Europa sonst nur in den Karpaten, den östlichen Alpen und im Riesengebirge wächst. Die Brockenanemone wird auch „Teufelsbart“ genannt. Nicht ohne Grund. Denn ihr Saft enthält Protoanemonin, ein Gift, das bei Menschen die Haut und die Schleimhäute reizt. Bei innerer Aufnahme können Durchfall, Schwindel und sogar Krämpfe und Lähmungserscheinungen die Folge sein. Im Brockengarten dürfe es kaum zu solchen Unleidlichkeiten kommen. Blumenpflücken ist hier streng verboten.

An die 1.800 Pflanzenarten wachsen insgesamt im Brockengarten. Edelweiß und Enzian, der Eisenhut aus den Hohen Tauern und die Einblütige Pantoffelblume aus Patagonien. Pflanzen aus dem Alpenraum, aus den Anden, dem Himalaja, den Pyrenäen oder dem Kaukasus: „Hier ist die Hochgebirgsflora der Welt versammelt“, sagt Karste. Auch Moose, Flechten und Kräuter gedeihen auf dem kargen Gestein, darunter das Brockenhabichtskraut, dass es nirgends sonst auf der Welt gibt.

Der Brockengarten ist nicht nur einer der höchstgelegenen Gärten Deutschland. Er ist auch Europas ältester Garten für Hochgebirgspflanzen. Bereits ab 1760 gab es einen Kräutergarten auf der Heinrichshöhe, einer Nebenkuppe des Brockens, und ab 1761 einen Garten mit Pflanzen vom Brocken in der am Fuß des Berges gelegenen Ortschaft Schierke. 1890 legte der Naturforscher und Leiter des Botanischen Gartens der Universität Göttingen, Albert Peter, den Brockengarten an. Er musste dafür die Genehmigung des Grundeigentümers, des Fürsten Otto zu Stolberg-Wernigerode, einholen. Peter machte dem Adligen und zeitweisen Vizekanzler Bismarcks die Sache durch die Ankündigung schmackhaft, er wolle die Anpassungsfähigkeit von Alpenpflanzen erforschen und so auch den Ruhm des Schlossherrn mehren.

Im militärischen Sperrgebiet

Während und infolge der beiden Weltkriege wurde die Brocken-Gärtnerei eingestellt, der Garten selbst in großen Teilen zerstört. 1950 übernahm die Universität Halle vorübergehend die Pflege der verbliebenen Pflanzen, bis die DDR das Gebiet elf Jahre später zum militärischen Sperrgebiet erklärte und rundherum Abhöreinrichtungen und Soldatenunterkünfte anlegte. 1971 musste die wissenschaftliche und gärtnerische Betreuung des Grundstücks vollends aufgegeben werden. Einheimische Pflanzen eroberten den Garten zurück. Biologen, die den Brockengipfel 1989 wieder betreten konnten, fanden nur noch etwa 90 von 1.400 kultivierten Arten.

Nach der Wende begannen die Universitäten Göttingen und Halle mit dem Wiederaufbau. Sie unterteilten den Garten in einen öffentlichen Schauteil und einen nicht für jedermann zugänglichen Bereich, der Forschungs- und Lehrzwecken dient. Verwaltet wird die Anlage vom Nationalpark Harz. Wegen der kurzen Vegetationsphase ist im Brockengarten nur von Mitte Mai bis Mitte Oktober Saison. Spätestens dann, sagt Karste, könne er den Gästen „nur noch braune Polster zeigen“.

Zwischen 6.000 und 9.000 Besucher kamen jeweils in den vergangenen Jahren. Am 8. Juni wird das 125-jährige Bestehen des Gartens mit einem Festsymposium im Kloster Drübeck bei Wernigerode am nördlichen Harzrand gefeiert.