: „Ein angreifbares Ergebnis“
NS-VERBRECHEN Die Hamburger Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Offizier ein. Die Nebenklage kritisiert das zugrunde liegende Gutachten
■ 61, Rechtsanwältin aus Hamburg, vertritt Enrico Pieri als Nebenkläger in dem Verfahren gegen Gerhard Sommer, das 2014 nach einer Klageerzwingung wieder aufgenommen wurde.
INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF
taz: Überrascht es Sie, dass das Verfahren gegen den ehemaligen SS-Offizier Gerhard Sommer nun eingestellt wird, Frau Heinecke?
Gabriele Heinecke: Was heißt überraschen – ich halte die Gründe der Einstellung nicht für richtig. Es ist die Verhandlungsunfähigkeit, die dazu geführt hat, nicht der Tatverdacht. Man muss unterscheiden, dass die Staatsanwaltschaft endlich anerkannt hat, dass Herr Sommer Kompaniechef war am 12. August 1944, dass er Verantwortung für das Massaker trägt. Wenn er nicht als verhandlungsunfähig eingeschätzt würde, wäre er anzuklagen und vor Gericht zu stellen.
Das ist erstmals so formuliert worden?
Genau. Insofern ist dieser Einstellungsbescheid prima. Unsere Kritik ist, dass die Feststellung der Verhandlungsunfähigkeit wegen der Angaben von Herrn Sommer und seiner Tochter geschah und keine anderen Quellen, etwa Mitarbeiter aus der Seniorenanlage, in der er wohnt, oder Therapeuten, die mit ihm umgehen, befragt wurden, um das Ganze zu objektivieren.
Wäre das Einholen einer dritten Stimme bei der Feststellung einer Demenz, wie es bei Gerhard Sommer geschah, das übliche Vorgehen?
Wir haben inzwischen drei Gutachten: 2013 eines, das von Verhandlungsunfähigkeit ausging, nachdem Herr Sommer sich vorher gerade im Krankenhaus befunden hatte. Im letzten Jahr hatten wir eines von einem Arzt und einer Psychologin, die nach ausführlicher Exploration von Herrn Sommer zu dem Ergebnis kamen, dass er leicht eingeschränkt verhandlungsfähig ist. Dann passierte lange nichts, bis die Staatsanwaltschaft im Januar erneut einen anderen Gutachter beauftragt hat. Der hat noch einen Psychiater ausgesucht, es wurde eine dritte Person hinzugezogen und schließlich die Demenz festgestellt.
Halten Sie es für möglich, eine Demenz vorzutäuschen?
Natürlich. In Rentenfragen ist das etwas, was täglich passiert.
Hat die Hamburger Staatsanwaltschaft das Verfahren Ihrer Ansicht nach verschleppt?
Sicher muss sich die Staatsanwaltschaft darüber klar werden, ob der Mensch noch verhandlungsfähig ist. Aber gerade wenn vorher ein Gutachten die Verhandlungsfähigkeit festgestellt hat, sollte man nicht wieder ein angreifbares Ergebnis präsentieren. Was die Verzögerung anbelangt, so muss man eher nach Stuttgart schauen, wo dieses Verfahren zehn Jahre herummoderte, ohne dass irgendetwas Sachdienliches in der Angelegenheit geschehen ist.
Gibt es für Sie als Vertreterin der Nebenklage überhaupt noch die Möglichkeit, das Verfahren weiter zu betreiben?
Bei dem Verbrechen in dem italienischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema im August 1944 hatte die Waffen-SS 560 Menschen erschossen oder mit Handgranaten umgebracht.
■ Als Kompaniechef soll der in Hamburg lebende, heute 93-Jährige Gerhard Sommer an der Tötung Hunderter Zivilisten beteiligt gewesen sein.
■ In Italien wurde Sommer in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt.
■ Das deutsche Verfahren gegen ihn wurde eingestellt und 2014 durch Klage wieder erzwungen.
Wir legen Beschwerde ein und beantragen, dass externe Quellen befragt und möglicherweise andere Experten herangezogen werden.
Als Außenstehender hat man das Gefühl eines Déjà vu: Ist die Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit der klassische Verlauf eines Verfahrens wegen NS-Verbrechen?
Ich möchte nichts verallgemeinern. Und ich finde, dass dieser Einstellungsbescheid ein besonderer ist, weil er auf der einen Seite klar den massiven Tatverdacht gegen Herrn Sommer benennt, ausführt und sehr sauber erklärt. Was dazu nicht passt, ist dass man offensichtlich gesagt hat: Es soll nicht länger recherchiert werden, was mit der Demenz ist. Wenn er dement ist – dann akzeptieren wir das auch. Wir wollen keinen dementen Menschen vor Gericht zerren. Aber mit den vorliegenden Fakten gibt es keinen Grund, das zu akzeptieren.
Wie hat Enrico Pieri, der als Kind das Massaker überlebte, und den Sie vertreten, die Nachricht von der Einstellung des Verfahrens aufgenommen?
Er ist enttäuscht. Der Bürgermeister von Sant‘Anna war im Januar da und hat mit dem Generalstaatsanwalt gesprochen, der davon ausging, dass bald Anklage erhoben würde. Natürlich kann er nicht voraussehen, was mit der Verhandlungsfähigkeit ist, aber man hat insgesamt darauf gehofft, dass einer der vielen SS-Leute, gegen die ein Ermittlungsverfahren geführt wurde, Verantwortung übernehmen muss. Es sind ja zwei Seiten: Das eine ist Herr Sommer und das andere ist die Justiz – und die hat in diesem Fall völlig versagt.