: Spannung in der Orchesterrepublik
NACHFOLGE Am Montag wählen die Berliner Philharmoniker einen neuen Chefdirigenten. 2018 wird dieser Simon Rattle ablösen. Wer es wird, ist unklar
VON FELIX ZIMMERMANN
Niemand weiß etwas in diesen Tagen, und gerade deshalb wird so viel geredet und geschrieben von denen, die schreiben und reden. Andere in Berlin – die Musiker – stehen in Probenpausen zusammen und diskutieren; wieder andere – die, die vielleicht ernsthafte Chancen haben – werden sich mit zunehmender Intensität in ihren Betten wälzen. Weil sie so gerne würden. Oder insgeheim hoffen, dieser Stab möge an ihnen vorübergehen.
Die Berliner Philharmoniker suchen einen neuen Chefdirigenten. Es ist einer jener Posten, für den vielleicht eine Handvoll Menschen in Betracht kommen. Ein paar davon derzeit mit Chefposten bei Spitzenorchestern in den USA, zwei in München, einer in Dresden, so ungefähr. Und keine Frau.
Am Montag ist Wahltag. Sir Simon Rattle, seit 2002 an der Spitze der Berliner, wird Wagners Rheingold an der Wiener Staatsoper proben und nur „gelegentlich auf mein Mobiltelefon gucken“. Er wird von da an nicht mehr so sehr im Fokus stehen, bis er 2018 abtritt. Rattle wird dann 16 Jahre an der Spitze der Philharmoniker gestanden haben. Wie kein Zweiter wird er wissen, wie fordernd, wie großartig, wie hart es sein kann, diese Position innezuhaben. 128 Spitzenmusiker (minus einiger derzeit unbesetzter Stellen), Dutzende Konzertkritiker, die jeden Misston in dieser Ehe auf Zeit für einen Scheidungsgrund halten, ungeheuerliche Aufmerksamkeit, Erwartung, Anspannung. Wie gut ist sein Beethoven, kann er Brahms? Sein Mahler, hach! Ab 2017 wird Rattle – für ein Jahr neben den Berlinern – das London Symphony Orchestra leiten. Nicht schlecht, aber im Vergleich zum Weltklasseensemble doch nur „im weiteren Kreis“, wie es das Sportmagazin kicker kategorisieren würde, ginge es um Fußballer. Vielleicht auch ganz erholsam. Rattle kann dann als Elder Statesman gelegentlich nach Berlin zurückkehren und ein bisschen Musik machen.
Die Berliner Philharmoniker werden sich vormittags treffen; der Ort ist noch geheim. Handys werden sie abgeben; Namen diskutieren, eine Kandidatenliste erstellen, reden, wägen; wählen mit Stimmzetteln und Urne, bis hinter einem Namen „eine deutliche Mehrheit“ der Stimmen steht – klarer ist das Statut nicht. Von einer Orchesterrepublik ist oft die Rede, und es ist tatsächlich einmalig, dass es allein die Musiker sind, die entscheiden. Kein Kulturstaatssekretär, kein Intendant, kein Sponsor.
Man blickt also in die Glaskugel. Wenn ein Tuttigeiger im Interview, das die Philharmoniker in ihrer Digital Concert Hall senden, von Christian Thielemann schwärmt, denkt man: Aha, der Kapellmeister der Semperoper hat gute Chancen, wird aber sofort abgelenkt vom lobenden Tweet der Hornistin für den Kanadier Yannick Nézet-Séguin. Hm, der Chef des Philadelphia Orchestra, gern gesehener Gast der Berliner, einer der jungen? Das alles heißt in Wahrheit: nichts. Zugleich wird aber jedes kleinste Ereignis rund um die gelbgoldene Philharmonie und ihre Hauptakteure seit Monaten, Wochen auf Anzeichen für den Tag X abgeklopft. Das hat großen Unterhaltungswert, nimmt aber auch skurrile Züge an.
Sagt Daniel Barenboim
Sagt Daniel Barenboim, der Staatsopern-Maestro, neulich, er sei kein Kandidat, dann senden viele: Er will nicht Rattle nachfolgen. Dabei sagt Barenboim nur, wie es ist: Kandidat ist – noch – keiner, wird es – wenn überhaupt – erst am 11. Mai, wird gewählt oder nicht und könnte immer noch absagen. Aber das täte wohl auch Barenboim nicht, der nach dem Abtritt Claudio Abbados vom Philharmonikerpult Rattle bei der Wahl unterlag.
Hat der Venezolaner Gustavo Dudamel seinen seit 2009 laufenden Vertrag mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra vor wenigen Wochen bis 2021 verlängert, dann heißt es: Hat sich aus dem Rennen genommen. Und wenn die Philharmoniker am 11. anrufen? Wird Philharmonikerintendant Martin Hoffmann bei einer Diskussionsrunde in München mit dem Chefdirigenten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons, gesehen, mutmaßt Die Zeit, es gebe „doch heimlich Vorgespräche mit den Kandidaten“ – die es nicht gibt, wie die Philharmoniker glaubhaft beteuern. Zu groß das Risiko, es sich mit, wie sie es immer so schön sagen, „unseren liebsten Freunden und Kollegen“ zu verscherzen.
Am wunderlichsten war aber der Tagesspiegel, als der Lette Andris Nelsons kürzlich die Philharmoniker dirigierte: 19 Tage hätten 1999 zwischen dem letzten Dirigat von Simon Rattle als Gast der Berliner Philharmoniker und seiner Wahl zu ihrem Chef gelegen – „und exakt 19 Tage sind es auch jetzt wieder, die Nelsons’ Auftritt mit dem Orchester von der Entscheidung über Rattles Nachfolger trennen“. Dann hat Nelsons, 36 und seit 2014 Chef des Boston Symphony Orchestra, auch noch Mahlers Fünfte gespielt, wie Rattle bei seinem Antrittskonzert 2002! „Zeichen oder Zufall?“ Völlig egal, weil die 124 Wahlberechtigten nicht wissen, ob sie Nelsons wählen. Wobei: Wer ihn und das Orchester an diesem Abend gehört hat, kann es sich nur wünschen. Hilft aber auch nichts.
Dass einer auch Schaden nehmen kann, zeigte die Diskussion über Kirill Petrenko, der die Philharmoniker im Dezember 2014 dirigieren sollte und kurzfristig durch Daniel Harding ersetzt wurde. Petrenko gilt als Anwärter, ist Anfang 40, derzeit Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper und sagenumwoben begehrt. Von der plötzlichen Abreise Petrenkos, kolportierte die Morgenpost, habe das Orchester auf Umwegen erfahren, „ein unglücklicher Dienstweg“ – damit sei er „raus aus dem Rennen“. Eine Deutung, die seither selbst durch seriöseste Blätter geistert. Uff.
Nüchternheit täte gut. Man findet sie bei Ulrich Knörzer. Er ist seit 1990 Bratscher bei den Philharmonikern, seit drei Jahren neben Kontrabassist Peter Riegelbauer einer der beiden Orchestervorstände. Besucht man ihn in der Philharmonie, dann trifft man einen betont ruhigen Mann, der geduldig spricht. Und nichts verrät.
Kürzlich probte das Orchester den Rosenkavalier. Aus dem Einsingzimmer wehen Sopranläufe durch die Flure. Seit über zwei Jahren wissen die Musiker von Rattles Entscheidung, „jetzt beginnt der Endspurt“, sagt Knörzer. Zwei Favoriten wie 1999 gebe es diesmal nicht. Wenn, dann könne „plötzlich einer im Rampenlicht stehen, mit dem keiner gerechnet hat“ – wie Abbado bei der Wahl zur Karajan-Nachfolge; „er war nicht bei den Top-Favoriten“.
Konklave mit Open End
Die Spekulationen jetzt? „Wir freuen uns, dass das Interesse da ist“, sagt Knörzer. Wenn es zu wüst wird, dann ärgert es ihn aber. So wie bei Petrenko. Er will das klarstellen: Was geschrieben wurde, war „nicht wahr, ihm ging es einfach nicht gut“, Petrenko habe „korrekt abgesagt“. Aber was brauchen sie nach Karajan, dem Autokraten, Abbado, dem Antiautoritären, Rattle, dem Erneuerer? „Wir sind ein Orchester, das den Blick in die Zukunft richtet, das sich zu öffnen versucht“, sagt Knörzer. „Das ist mit Sir Simon besonders gut gelungen. Er hat die Programmatik fantastisch erweitert, hat uns eine wunderbare Breite gegeben, die wir unbedingt erhalten wollen.“ Kenner könnten darin etwas lesen, aber am besten lässt man das. Die Philharmoniker haben die Wahl. Bratscher Knörzer sagt, „eine Zeit lang sah es aus, als sei das Feld dünn geworden; aber das hat sich geändert, wir haben viele Möglichkeiten“. Jungstars wie Dudamel, Nelsons, Nézet-Séguin; Maestros wie Barenboim oder Jansons, auch Thielemann.
Sie haben ihr Konklave mit Open End angesetzt. Es könnte dauern am Montag. Aber es wird der Tag sein, nach dem sich die Gemüter beruhigen werden und einer in eine neue Sphäre seines Schaffens vordringt. Weil er ab 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker sein wird.