„Die türkische Gesellschaft muss sich öffnen“

ARMENIEN Der Politologe Ruben Mehrabyan glaubt, dass der Umgang Deutschlands mit dem Holocaust ein Vorbild für den Umgang der Türkei mit dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren sein sollte

■ Der 48-jährige Politologe arbeitet am Zentrum für Politische und Internationale Studien in der armenischen Hauptstadt.

taz: Herr Mehrabyan, was erwartet Jerewan von der Resolution des Deutschen Bundestages am 24. April?

Ruben Mehrabyan: Wir erwarten, dass der Bundestag den Völkermord an den Armeniern auch als solchen benennt. Vor einigen Tagen hat das österreichische Parlament das Gleiche getan, was ich als historischen Akt bezeichne. Österreich und Deutschland waren militärische Verbündete des Osmanischen Reiches. Die Anerkennung durch Wien und Berlin wäre ein ganz starkes Signal an die türkische Regierung, die den Völkermord immer noch leugnet. Deutschland hat den Mut gefunden, die eigene Schuld an der Vernichtung der Juden anzuerkennen. Gerade die Deutschen kennen den schwierigen, aber erfolgreichen Weg vom Völkermord zu Versöhnung und Völkerverständigung.

Deutschland sollte die Bedeutung seiner Beziehungen zur Türkei nicht unterschätzen …

Eine Anerkennung des Völkermordes durch Deutschland bedeutet nicht, dass Berlin diese Beziehungen unterschätzt. Im Gegenteil. Deutschland sollte der Türkei helfen, mit ihrer Geschichte umzugehen. Dafür aber sollte Deutschland den Völkermord an den Armeniern zuerst anerkennen. Die türkische Gesellschaft muss sich öffnen, genau so wie die Deutschen das getan haben. Die Verbrechen des Osmanischen Reiches anzuerkennen, beleidigt nicht die heutige türkische Gesellschaft.

Wie wird Armenien nach dem 100. Jahrestag mit dem Thema umgehen?

Wir fordern auch von den Parlamenten und Regierungen anderer Länder, dass sie die historischen Fakten nicht länger leugnen. Die klaren Äußerungen von Papst Franziskus am 12. April haben die internationale Gemeinschaft aufgeweckt. Heute ist Armenien das Topthema in den Medien weltweit. Der Anerkennungsprozess wird auch anschließend weitergehen. Wie sich das künftig gestaltet, hängt ausschließlich von Armenien ab. Armenien muss die Werte der internationalen Gemeinschaft teilen, Werte wie Menschenrechte, Pressefreiheit, freie und demokratische Wahlen. Nur dann kann Armenien mit den anderen Parlamenten zusammenarbeiten, auch da, wo es um die Anerkennung des Völkermordes geht.

Wie wichtig sind für Armenien die Beziehungen zur Türkei?

Vor allem geht es um die Sicherheit und Stabilität in der gesamten Region. Normale Beziehungen und offene Grenzen zum Nachbarland Türkei gehören unbedingt dazu. Doch ohne die Anerkennung des Völkermordes durch die türkischen Regierung ist eine ehrliche Partnerschaft zwischen den beiden Seiten ausgeschlossen.

INTERVIEW: TIGRAN PETROSYAN