TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Balestrini und der Maschi-nenroman
Mich hat sie gelangweilt, die neueste Auflage der Kulturpessimismus-Debatte, ausgelöst durch Frank Schirrmachers Buch „Payback“. Was hat man schon mit den Sublimierungsproblemen einer antiquierten Klasse zu tun? Außerdem tendiere ich zu ausgeprägter Technikeuphorie und Fortschrittshoffnung.
Interessanter ist deshalb Nanni Balestrinis Hommage an den Tristan-Mythos, in der es gar nicht um Tristan geht. „Tristano No 7898“ (Suhrkamp, 2009) von 109.027.350.432.000 möglichen Versionen fiel mir in die Hand. Das ist die Anzahl der Romane, die sich durch computergesteuerte Kombinatorik aus einem einzigen etwa 120 Seiten langen Roman ergibt, zerlegt man ihn in seine Bestandteile. Ich wollte sofort ein zweites Exemplar besitzen und besorgte mir „Nummer 7883“ dieser Fortschrittsfeier, dieser antiauratischen Manifestation, von der es 2.000 Versionen auf Deutsch gibt. Der erste Satz – immer ein anderer. Der Fetisch Originalwerk – feierlich dem Müll übergeben.
Balestrini schrieb die Vorlage bereits 1966 und musste 40 Jahre warten, bis die digitale Drucktechnik die Umsetzung des Maschinenromans erlaubte. Dazwischen suchte er nach neuen Erzählpositionen und -techniken, um soziale Realität mit Mitteln der Prosa abzubilden – sei es in „Wir wollen alles. Roman der Fiatkämpfe“ (Assoziation A), der die Geschichte eines jungen süditalienischen Arbeiters erzählt oder in „Die Wütenden“ (ID Verlag), in dem die Fußballfans aus den Vorstädten Mailands zu Wort kommen.
Seine Romane und Theaterstücke können als militante Untersuchungen gelten, so wie sie die italienische Autonomia-Bewegung, der er angehörte, als Klassenauseinandersetzung betrieb. Sein dokumentarisches Verfahren im Stil der Oral History erinnert an die russischen Futuristen um Sergei Tretjakow, dessen Technik wiederum Walter Benjamin feierte, sofern es darum gehen sollte, immer wieder nach neuen epischen Möglichkeiten zu suchen.
■ Tania Martini ist Kulturredakteurin der taz Foto: privat