Vielfältige Formen der Umarmung

BÜHNE Choreografin Sasha Waltz feiert an der Deutschen Oper mit Hector Berlioz’ Oper „Roméo und Juliette“ Premiere – neben großen Tanzszenen ist darin ein Nebeinander von Leidenschaft und Ironie zu sehen

„Erste Liebe, bist du nicht / Viel höher als jede Poesie?“

AUS DEM PROLOG

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Es sind die Gefühle vor allem, denen die Symphonie Dramatique „Roméo und Juliette“ von Hector Berlioz gilt. An Verliebtheit und Sehnsucht, Traurigkeit und Schwermut berauscht sich die 1839 uraufgeführte Komposition des französischen Romantikers, aber sie ist auch von grotesken und parodistischen Hüpfern ob des allzu großen Gefühlsüberschwangs durchsetzt. Das sparsame Libretto für diesen Zwitter zwischen Oper und Sinfonie übernehmen ein großer Chor und drei erzählende Solisten. Ihr Text ist manchmal mehr ein Schwärmen für Shakespeare als eine Übersetzung der Handlung.

Shakespeares Geheimnisse

„Erste Liebe, bist du nicht / Viel höher als jede Poesie? / Oder bist du nicht diese Poesie selbst / Verbannt unter uns Sterbliche / Deren höchstes Geheimnis nur Shakespeare kannte / Und mit sich in den Himmel nahm“, singt Ronnita Miller, Mezzosopran, im Prolog. Während ihre Stimme dem Unbeschreibbaren der Liebe die Konturen des Überwältigenden gibt, sieht man in Sasha Waltz’ Inszenierung in der Deutschen Oper ein Hinschmelzen von Einzelnen und Gruppen, ein Sichaneinanderschmiegen der Körper, ein Zulassen von Nähe und Berührung, von Hingabe und Aufgehobensein. Intim und spielerisch zugleich ist dieses Bild der Liebe, Begehren und Erfüllung noch ohne Furcht vor Verlust.

2007 erhielt die Choreografin Sasha Waltz von der Pariser Oper den Auftrag, „Roméo und Juliette“ zu inszenieren, mit dem berühmten Ballett-Ensemble der Pariser Oper. Jetzt hat sie für die Deutsche Oper Berlin diese Choreografie wieder aufgenommen mit den Tänzern von Sasha Waltz & Guests. Nicht oft gelingt es dem Tanz, die Interpretation einer sinfonischen Musik und von großen Chorpassagen so sehr zu unterstützen, ohne illustrativ zu werden. Hier aber fließen die Handschrift von Sasha Waltz und die abwechslungsreiche Musik von Donald Runnicles aufeinander zu und umschlingen sich, wie die Bewegungen von Roméo und Juliette in einem ausgedehnten Pas de deux.

Diese „Scène d’amour“ nimmt in Berlioz’ Werk einen breiten Raum ein. Joel Suárez Gómez und Yael Schnell tanzen das Paar, das in vielfältigen Formen der Umarmung ihre Begegnung erfindungsvoll variiert. Das ist mehr als ein erstes Verliebtsein, das ist eine bewegungsreiche, beidseitig aktive Beziehung, die stets erneuert wird. Wenn die Musik ihre Trennung fordert und der Tanzboden im Bühnenbild selbst sich zu bewegen beginnt und sie auseinanderbringt, ahnt man den tragischen Fortgang. Die Feindschaft der Familien Capulet und Montagu, von Chören verkörpert, lässt ihnen keine Chance.

Sasha Waltz hat in diesem Moment einen Bruch eingebaut, die Musik setzt aus, ein Teil der Bodenplatten klappt zurück wie die Seite eines Buches, schwarze Farbe läuft daran herab. Diese Schräge versucht Roméo hinaufzulaufen, vergeblich. Das ist ein symbolisches und ausdrucksstarkes Bild für die Unerreichbarkeit dessen, was eben noch so greifbar schien. Den starken Emotionen der Musik setzt die Choreografin so auch eigene Akzente entgegen, in denen ein Solist allein den ganzen Raum zu füllen vermag, der zuvor von rivalisierenden Gruppen besetzt war.

Im Text des Librettos (von Émile Deschamps) wird die Handlung vom Chor und den Solisten teils in der Vorschau, teils in der Rückschau zusammengefasst und ihr emotionaler Gehalt nachträglich oder vorwegnehmend in der Orchestermusik ausgebreitet. Diese Struktur gibt der Choreografin große Freiheit, an die verschiedenen Ebenen anzudocken und neue hinzuzufügen. In den Ensembleszenen verliert sich oft der Fokus auf ein Paar, hier und dort nehmen Gruppen verschiedene Elemente der Musik und der Erzählung auf. Dabei schieben sich Leidenschaft und Ironie nebeneinander, so wie Roméos Freunde sich über seine Verliebtheit lustig machen.

Gut, dass Sasha Waltz diese Inszenierung endlich auch in Berlin zeigen kann, ist doch dieses Stück Musiktheater differenzierter gelungen und dem Geist der Musik viel näher als ihre letzte Opernarbeit, Wagners „Tannhäuser“ an der Staatsoper.

■ „Roméo und Juliette“: Deutsche Oper, wieder am 20., 22., 28. + 29. April und am 2. Mai, jeweils 20 Uhr