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Archiv-Artikel

Im Kollektiv der Formerfinder

AVANTGARDE Die russische Revolution veränderte den Kunstbegriff. Viele Künstlerinnen nutzten das – zu sehen in Ludwigshafen

Tatsächlich war die Hinwendung zur „Produktionskunst“ keine Abwertung

VON RONALD BERG

„Die Avantgarde war weiblich!“, so lautet die These der Ausstellung des Wilhelm-Hack-Museums über die russische Kunst der Jahre 1907 bis 1934. Über hundert Werke, vor allem Gemälde, werden in Ludwigshafen ausgestellt, um den Einfluss der Künstlerinnen auf die künstlerischen Geschehnisse vor, während und nach der Oktoberrevolution von 1917 darzulegen. Bis auf zwei stammen alle gezeigten Arbeiten von Frauen – den „Schwestern der Revolution“.

Nun ist es ja nicht so, dass Künstlerinnen wie Natalja Gontscharowa, Alexandra Exter, Ljubow Popowa oder Warwara Stepanowa nicht auch im Westen schon hinlänglich bekannt wären. Von ihnen kommt auch im aktuellen Falle das Gros der Werke. Hauptleihgeber mit allein 80 Arbeiten ist die Staatliche Tretjakow-Galerie in Moskau. Anlass für diese Kooperation war das Deutsch-Russische Kulturjahr 2012/13.

Der Anteil der Frauen an der russischen Kunst war schon seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgesprochen groß. Schulen und Akademien standen den Frauen offen, teils wurde sogar koedukativ gelernt – selbst beim Aktstudium. In der rasanten Abfolge künstlerischer Ismen in Russland beteiligten sich Frauen tatsächlich an vorderster Front. Meist aus gut situierten Kreisen stammend, konnten sie sich Westreisen leisten und in den Pariser Ateliers, etwa von Braque oder Delaunay, Eindrücke sammeln.

Von Paris nach Moskau

Die künstlerischen Folgen kann man jetzt im Wilhelm-Hack-Museum begutachten. Vieles sieht den kubistischen, orphischen oder futuristischen Vorbildern sehr ähnlich. Die Synthese zum russischen Kubo-Futurismus leisteten dann Frauen wie Exter oder Popowa. Auch das lässt sich nachverfolgen.

Für die richtige Einschätzung der weitere Entwicklung hin zu einer rein abstrakten Kunst fehlen allerdings dann doch Künstler wie Kandinsky, Rodtschenko, Lissitzky, Puni oder Tatlin. Das Geschlecht zum entscheidenden Kriterium der Auswahl zu machen, unterstellt eine Differenz oder Konkurrenz der Geschlechter in der Kunstausübung, wofür es gerade im Hinblick auf die russische Avantgarde wenig Anlass gibt. In Russland arbeiteten seinerzeit sogar viele prominente Künstlerpaare: Gontscharowa/Michail Larionow, Jelena Guro/Michail Matjuschin, Olga Rosanowa/Alexei Krutschonych, Nadeschda Udalzowa/Alexander Drewin oder Xenia Boguslawskaja/Iwan Puni, Warwara Stepanowa/Alexander Rodtschenko.

Die geschlechtsspezifische Betrachtungsweise nötigt im Grunde dazu, die ausgeblendeten Speerspitzen von Suprematismus und Konstruktivismus im Geiste selbst zu ergänzen. Und das waren nun mal Männer wie Malewitsch oder Tatlin.

Wollte man also den Eindruck vermeiden, Frauen konnten sich nur in deren Nachfolge, also in vertiefender Ausarbeitung und praktischer Anwendung avantgardistischer Prinzipien, besonders hervortun? Tatsächlich war die Hinwendung zur „Produktionskunst“ der 20er Jahre, also die Absage an eine zweckfreien Kunst zugunsten der Gestaltung von Alltags- und Gebrauchsdingen, für die damaligen Künstlerinnen (und Künstler) mit keinerlei Abwertung verbunden. Was zählte, war ohnehin das Kollektiv.

Gemälde galten nun genauso viel wie Entwürfe für die industrielle Produktion. Denn in beiden Fällen ging es ja um die Organisation des formbildenden Materials. Die Revolution hatte eben auch den Kunstbegriff entscheidend verändert. Die Konstruktivisten spielten in dieser Wendung zur „angewandten“ Kunst eine entscheidende Rolle. Und gerade hier findet man in der Schau bei Mode- oder Kostümentwürfen für das Theater oder beim Grafikdesign für Plakate und Bücher die interessantesten Arbeiten. Dass die Kunst direkt ins Leben eingreifen wollte, zeigt sich sehr schön an den abstrakten Textilentwürfen von Ljubow Popowa und Warwara Stepanowa.

Stoffmusterentwürfe, die mit Lineal und Zirkel aus klaren Formen und wenigen Farben auf dem Papier konstruiert wurden, belegen die Übersetzung konstruktiver Prinzipien auf den Textildruck. Kräftig ist der Farbkontrast der Stoffbahnen, die von der Decke herabhängen. Im nachrevolutionären Russland war die Verbreitung solcher Textilien allerdings nicht besonders hoch. Für Arbeiter- und Bauersfrauen waren sie schlicht zu teuer. Erfolgreicher wurden die eleganten Entwürfe für Abendkleider von Natalja Gontscharowa. Die nach ihnen gefertigten Kleider fanden in den 20er und 30er Jahren Anklang bei gutbürgerlichen Kreisen in Paris, wohin Gontscharowa schon 1917 emigriert war.

Mit der Avantgarde war es im Sowjetstaat selbst spätestens seit den 30er Jahren auf Geheiß von Stalin vorbei. Das ständige Vorwärts in der Formerfindung und der Aufbruch der Künstler(innen) in die industrielle Produktion, ja eigentlich zu allen formgebenden Prozessen innerhalb der Gesellschaft, kam zum Erliegen.

Vermeintliche Autonomie

In der Ludwigshafener Schau wird der Zusammenhang von Kunst und gesellschaftlichen Entwicklungen allerdings wenig sichtbar. Stattdessen offeriert man eine monografisch geordnete Leistungsschau weiblichen Kunstschaffens, die eine vermeintlich autonome Stilentwicklung in den Mittelpunkt rückt. Für den Kunstgenuss an einigen schönen Bildern mag das reichen, aber der Erkenntniswert ist gering.

Den großen Anteil von Frauen an der russischen Kunst im Umfeld der Revolution erklärt man dadurch nicht. Schließlich ging es den Künstlerinnen nicht um so etwas wie „Frauenkunst“. Dass die weiblichen „Künstler“, wie die Frauen sich selbst nannten, die gleichen Vorstellungen und Ideale von der Rolle der Kunst in der Gesellschaft hatten wie ihre männlichen Kollegen, lässt sich in Ludwigshafen nicht nachvollziehen.

■ Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen, bis 17. Februar. Katalog 39,90 Euro (im Museum 29 Euro)