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Archiv-Artikel

„Es gibt null Untersuchungen“

JUGENDHILFE Der Kriminologe und Sozialpädagoge Olaf Emig über die geplante geschlossene Unterbringung Minderjähriger in Bremen

Olaf Emig

■ 68, der Kriminologe und Sozialpädagoge war Lehrbeauftragter an Unis, Koordinator zur Vermeidung von Jugendarrest und U-Haft in Bremen und wissenschaftlicher Mitarbeiter der grünen Bürgerschaftsfraktion im Untersuchungsausschuss „Kindeswohl“.

INTERVIEW SIMONE SCHNASE

taz: Herr Emig, Sie haben eine Petition verfasst gegen die geschlossene Unterbringung (GU) junger Menschen im Rahmen der Jugendhilfe. Warum?

Olaf Emig: Ich habe jahrelang in der Heimerziehung mit geschlossenen Teilsystemen wie der GU gearbeitet und weiß, dass hier Missbrauch Tür und Tor geöffnet werden. Seit Jahrzenten beschäftige ich mich mit der Wirkung von Freiheitsentzug auf das Verhalten junger Menschen. Auch die jüngsten Beispiele aus der Haasenburg GmbH zeigen, dass sich bis heute nichts geändert hat. Ich bin entsetzt darüber, dass Bremen eine GU für eine Gruppe unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge plant – und das auch noch auf dem Gelände eines Gefängnisses. Und das ist ja nur die Spitze des Eisbergs.

Inwiefern?

Bereits die Unterbringung eines Teils der minderjährigen Flüchtlinge in zweifelhaften Hotels oder in der Erstaufnahme verletzt vorgeschriebene Jugendhilfestandards und verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Es kann bis zu drei Monate dauern, bis die Jugendlichen Amtsvormünder bekommen. Das geht nicht, das muss unmittelbar nach deren Ankunft geschehen.

In Ihrer Petition heißt es, bei den Jugendlichen, die geschlossen untergebracht werden sollen, ist das Subsidiaritätsprinzip des Vorrangs der milderen Intervention nicht eingehalten worden. Was bedeutet das?

Das heißt in diesem Fall, dass vor staatlicher Zwangsintervention wie einem gerichtlichem Unterbringungsbeschluss weniger eingriffsintensive Maßnahmen wie betreutes Wohnen im ausreichendem Maße ausprobiert worden sein muss. Einsperren ist immer ultima ratio. Es gibt immer Jugendliche, die auffallen, sowohl sozial als auch strafrechtlich. Da denkt sonst niemand an eine geschlossene Unterbringung. Aber nun gab es in einer Bremer Jugendnotaufnahmestelle in der Tat massive Schwierigkeiten mit Jugendlichen, Sicherheitsdienste wurden eingesetzt und es entstand die Idee einer intensiven und robusten Betreuung in einer GU der Jugendhilfe. Allerdings sind zuvor nur unzureichend und lückenhaft andere pädagogische Maßnahmen ausprobiert worden – und das muss normalerweise immer getan werden.

Sozialsenatorin Anja Stahmann spricht von „sehr schwierigen Jugendlichen, die mit den Instrumenten des Jugendhilfesystems nicht zu erreichen sind“. Was macht diese Jugendlichen denn so schwierig?

Das weiß keiner. Es gibt null Untersuchungen über sie, keine Dokumentation, nichts. Wir wissen nicht, was man ihnen in ihrer Heimat und während ihrer Flucht angetan hat, weil immer nur darüber gesprochen wird, was sie getan haben sollen – und das ist nicht viel. Der allerkleinste Teil dieser ungefähr 30 Jugendlichen, die wiederholt in Bremen in Erscheinung getreten sind, ist strafrechtlich verurteilt worden. Dennoch werden alle als kriminell oder sogar Intensivtäter betitelt. Die Jugendlichen sind häufig mangels Betreuung in Cliquen unterwegs, wo es auch zu Straftaten und Ordnungswidrigkeiten kommt. Oft werden dann alle Cliquen-Mitglieder als Tatverdächtige registriert und schon nach wenigen Wochen avanciert man zum Mehrfach- oder Intensivtäter in der Polizeistatistik, obwohl noch nicht einmal eine Anklage vorliegt. Wir wissen nur, dass es sich wohl um Jugendliche aus den Maghreb-Staaten, also vorwiegend aus Tunesien, Marokko und Algerien, handeln soll.

Sie haben an einer Evaluation sozialer Trainingskurse in Bremen mitgewirkt, in der unter anderem rassistische Unterscheidungspraxen im Kontext von Jugendkriminalität kritisch beleuchtet werden. Lothar Kannenbergs Einrichtung im Stadtteil Rekum und auch das geplante Heim sind aber explizit für Flüchtlinge.

Es gibt Etikettierungen, die sind einfach unzulässig. Ein Migrationshintergrund ist kein Kriterium dafür, dass jemand eher straffällig oder auffällig wird oder eingesperrt gehört. Das Problem ist, dass Jugendhilfeträger oft nur Geld für ihre Arbeit bekommen, wenn sie explizit Konzepte für Jugendliche mit Migrationshintergrund oder mit anderen Etikettierungen anbieten. Was die Jugendlichen angeht, die nun geschlossen untergebracht werden sollen, könnte sich aufgrund ihrer Herkunft allerdings eine andere Chance ergeben.

Welche denn?

Neulich hat ein Jugendhilfevertreter des St. Theresienhauses in Bremen-Nord gesagt, dass man das Wissen um deren gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Hintergrund doch wunderbar nutzen könne, um ihnen effektiv zu helfen. Das wäre doch viel einfacher als bei Jugendlichen, die aus vielen völlig unterschiedlichen Ländern kommen. Das finde ich einen sinnvollen Ansatz, der noch zusätzlich gegen die angebliche Notwendigkeit spricht, diese Jugendlichen geschlossen unterzubringen.

Wie lässt sich der geplante Rückschritt in die Fürsorgeerziehung überhaupt erklären?

Im Moment mit der Überforderung angesichts der steigenden Zahlen unbegleiteter Minderjähriger. Aber auch mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von Zukunftsängsten und Vertrauensverlust geprägt ist. Das allgemeine Straf- und Sanktionsbedürfnis ist trotz sinkender Kriminalität gestiegen. Man glaubt im Bereich von sozialen und störenden Auffälligkeiten von Jugendlichen, durch normative Anforderungen einen Ordnungsrahmen setzen zu können. Deswegen erfreuen sich Erziehungscamps, Anti-Agressivitätstrainings oder fragwürdige isolierende Auslandsaufenthalte in Kirgisien oder Sibirien großer Beliebtheit. Jemand wie Lothar Kannenberg ist da ein gutes Beispiel: Der setzt auf Sport, Regelwerk und Gruppensanktion und meint, eine pädagogische Ausbildung sei für diese Arbeit nicht notwendig. Übersehen wird, dass beispielsweise Boxcamps oftmals einfacher zu bewältigen sind als Maßnahmen einer pädagogisch-orientierten Jugendhilfe. Wobei ich eine sportliche Ausrichtung in pädagogischen Projekten sehr begrüße, aber sie allein reicht nicht aus.

Demütigungen sind einfacher zu bewältigen?

Ja. Es ist für einen Jugendlichen viel leichter, das zu sagen und zu tun, was ihm oktroyiert wird, als Verantwortung übernehmen zu müssen und das eigene Verhalten zu reflektieren. Denn diese Prozesse dauern natürlich ein bisschen länger. Da stößt die gesellschaftliche Akzeptanz manchmal an ihre Grenzen.

Anders als Bremen möchte der potentielle Hamburger Träger das Heim generell für Minderjährige nutzen. Glauben Sie, dass Bremen dabei bleibt, nur die Flüchtlingsjugendlichen einzusperren?

Nein, ich sehe ganz klar die Gefahr, dass sich damit in Zukunft wieder eine unkontrollierte Form der Erziehung etablieren wird. Neue Zielgruppen findet man immer.

Die Sozialbehörde behauptet, kein Bremer Jugendhilfeträger habe sich bereit erklärt, die Verantwortung für die Jugendlichen zu übernehmen und deswegen Kannenberg hergeholt. Auch einen Bremer Träger für die GU hat man nicht gefunden und deswegen Hamburg ins Boot geholt. Lässt das hiesige Jugendhilfesystem mit ihrer Verweigerung die Jugendlichen ins offene Messer laufen?

Nein, das sehe ich nicht so. Die Jugendhilfe ist in der Lage, ihnen zu helfen. Sie macht das seit Jahren und hat immer wieder mit Jugendlichen in ähnlichen Problemlagen zu tun, die in Bremen zyklisch auftauchen. Die Träger gehen aber meiner Meinung nach momentan zu wenig offensiv mit dem um, was sie können. Sie reagieren auf die Behörden und zeigen eine klare Haltung, aber sie sollten mehr mit Konzepten und Forderungen nach vorne gehen, Flagge zeigen und wieder das Zepter des Handelns in die Hand nehmen.