Normalzeit
: HELMUT HÖGE über den Leichtsinn

„Flieht auf leichten Kähnen!“ (Georg Trakl)

Nietzsches Rat „Werdet oberflächlich! Denn dorthin kommen die Wesen der Tiefe, um zu atmen“, wird erst jetzt so richtig angenommen, da wir alle es – mindestens im Digitalen – inzwischen sogar begrüßen, bloß noch auf Oberflächen zu arbeiten (surfen). Darüber hinaus hat sich deren Begrifflichkeit auch längst Eingang in unser eigenes (bedeutend tieferes) Leben verschafft – in Form von Genetik, Neurobiologie, Bodyshaping und allerlei Nutzerslang für das Soziale. Der Virenschutz muss upgedated werden, wir kucken nicht mehr hin, sondern scannen etwas ab und dürfen nicht einmal mehr anständig miteinander reden: „Wir müssen kommunizieren!“, wie Jean Baudrillard bitter bemerkte. Dem Berliner Biologiehistoriker Hans-Jörg Rheinberger schwante es in einem gentechnischen Labor bereits, dass er es dabei mit „Kulturwissenschaft“ zu tun bekam.

Auf einer taz-café-Veranstaltung versicherte uns kürzlich die verdiente 83-jährige Geldbeschafferin der Partisanen und spätere Il Manifesto-Gründerin Rossana Rossanda: „Die Linke hat noch Gewicht.“ Demgegenüber scheint es aber heute eher darum zu gehen, an Leichtigkeit zu gewinnen – also gerade an Gewicht zu verlieren. Dies weniger im Sinne Nietzsches „Wir haben noch genügend Chaos in uns, um einen tanzenden Stern zu gebären“, als vielmehr aus einer Differenz heraus, die uns neulich – ebenfalls in der taz – Luc Boltanski auftat.

Der französische Soziologe unterschied dabei in seiner Analyse der gegenwärtigen linken Misere zwischen einer früheren „Sozialkritik“ und einer jetzigen „Künstlerkritik“. Erstere drängte sozioökonomisch denkend zu Umverteilung und Verstaatlichung, Letztere betont gegenüber jeder sozialen Kontrolle die individuelle Autonomie und Kreativität. Einer solchen „Bohème“ wird im Digitalen alles zu einem „Projekt“. Ihre Künstlerkritik verhält sich zur Sozialkritik wie der Projektemacher zum Unternehmer.

Sobald das projektemacherische Leben sich jedoch auch noch auf die „Intimbeziehungen“ ausdehnt – insbesondere, wenn es dabei um das „robuste Projekt Kind“ geht – „zeigt sich die Linke der Kultur des Projekts keineswegs abgeneigt“. Dies führe aber zu einer Umkehrung der Positionen zwischen Linken und Rechten „beim Übergang von der ökonomischen auf die biopolitische Achse“. Und die ist für Boltanski, der an den „extremen Enden der biopolitischen Achse“ bereits jede Menge „Fanatismen“ sich herausbilden sieht, eine der „Ursachen für die Schwächung der Kritik am Kapitalismus“.

Zu ihrer Stärkung plädiert er für eine dritte Achse, das heißt „Weg“. Im Übrigen ist das Wort „robust“ inzwischen in nahezu jede soziologische Theoriebildung gerutscht. Ich weiß allerdings nicht, was man uns damit eigentlich sagen will. Für Boltanski scheint das Robuste so etwas wie ein individuelles Gegengewicht zu sein – zur allgemeinen „Prekarisierung des Privatlebens“ auf Deubel komm raus. Statt von leicht und schwer spricht er jedoch von „groß“ und „klein“, wenn es um den „exemplarischen“ Projektemacher geht, der natürlich „groß“ ist, wohingegen das „Kleine“ in der neuen „Netzwerkwelt“ mangels „Kontakten“ eingeht, was einer Ausschließung und damit dem „sozialen Tod“ gleichkomme.

Im Gegensatz dazu hatten uns die „Marxisten“ Gilles Deleuze und Félix Guattari – unter anderem gegenüber allen Parteiverherrlichern – noch „Das Klein-Werden Schaffen“ nahegelegt. Ihnen schien dabei das „Nomadendasein“ noch verheißungsvoll, wohingegen es für Boltanski schon ein Zwang und ein Fluch ist, „in der projektorientierten Rechtfertigungsordnung immer mobil sein“ zu müssen (um „Großes“ zu vollbringen).

In einem Vortrag über „Projektemacher“ auf der Konferenz „9 to 5 – Wir nennen es Arbeit“ tröstete man uns in diesem Zusammenhang bereits damit, dass immerhin auch die Großprojekte ständig abnehmen. So gehe es dabei zum Beispiel nicht mehr um Staudämme-Bauen oder Flüsse-Umleiten, sondern eher um Mikroprojekte im My-Bereich, also alles immer noch kleiner zu machen: die My-hen der Ebene.