crime scene
: Ein bitterer Schlüsselroman zur Putin-Ära: „Stalins Geist“ von Martin Cruz Smith

Wer Arkadi Renko, den Helden des Kalter-Krieg-Thrillers „Gorki Park“, schon unter den sich selbst überlebt habenden Klassikern abgelegt hatte, der hatte sich geirrt. Dabei war es doch recht still geworden um den unbestechlichen russischen Ermittler. Eine Handvoll Arkadi-Renko-Romane sind seit Martin Cruz Smith’ erstem Welterfolg zwar durchaus erschienen, doch konnte keiner an den Riesenerfolg von „Gorki Park“ anknüpfen. Mit seinem neuesten Roman „Stalins Geist“ dagegen hat Cruz Smith wohl wieder einen Klassiker gelandet. Zu einer Zeit, da das neue Russland mit seiner Melange aus Personenkult, Brutalkapitalismus, Mediengleichschaltung und Korruption einer Autokratie vom alten Schlage immer ähnlicher wird, kommt da dieser amerikanische Exjournalist, der nicht einmal Russisch spricht, und verwebt das ganze undurchdringliche Geflecht der Negativschlagzeilen, die Putin-Russland in den vergangenen Jahren in der westlichen Presse gemacht hat, zu einem hochspannenden Thriller, der sowohl literarisch in den Bann zieht als auch im besten Sinne politische Aufklärung leistet. Dass es, angesichts der Heerscharen russischer Thrillerautoren, ein Ausländer sein muss, der diesen bitteren Schlüsselroman zur Putin-Ära abliefert, ist dabei bedenkenswert.

Ein starker Hang zur Symbolik ist diesem Roman eigen, doch da er auch als eine Art Geschichtskompendium fungieren will, kann er ohne starke Symbole nicht auskommen. Die Anfangsszene schwebt dabei wie die Mutter aller Metaphern über den Dramatis personae dieser Tragödie im Thrillergewand. Arkadi Renko, der als Ermittler bei der Moskauer Staatsanwaltschaft arbeitet, wird zu einem ungewöhnlichen Einsatz in die U-Bahn gerufen: Mehrere Fahrgäste geben an, bei einer bestimmten Station sei ihnen Stalin erschienen. Diese Leute bilden einen offenbar beliebigen Querschnitt der russischen Gesellschaft: ein paar alte Mütterchen und Weltkriegsveteranen, ein paar Prostituierte, eine noch unschuldige Schülerin und ein Filmregisseur von zweifelhaftem Ruf, der sein Leben mit dem Drehen von Pornos fristet. Arkadi Renko registriert, dass der Regisseur mit US-Marketingfachleuten in Verbindung steht, unter deren oberster Regie der Russe einen reißerischen Bericht über die unterirdische Stalin-Erscheinung dreht, der anschließend in den Nachrichten gezeigt wird – mit Arkadi Renko in der Rolle des wütenden Spielverderbers.

Wie sich weiterhin zeigt, arbeiten die Amerikaner als Wahlkampfberater für einen Kollegen Renkos, Nikolaj Isakow, einen Kriminalpolizisten, der vor Jahren als Offizier der Omon-Spezialtruppen in Tschetschenien gekämpft hat und nun in die Politik einsteigen will. Doch eben dieser Isakow ist nicht nur Renkos beruflicher Widersacher, sondern auch im Privatleben als nicht nur ehemaliger Geliebter von Renkos Freundin Eva, die als Ärztin im Tschetschenienkrieg dabei war, sein schärfster Rivale. So weit die Grundkonstellation der Figuren, die sich um den Hauptstrang der Handlung konzentriert, in dem Arkadi Renko unbefugterweise einer Reihe von Todesfällen nachgeht, die Isakow als gelöst zu den Akten gelegt hat, die aber sämtlich mit seiner Tschetschenien-Vergangenheit verknüpft zu sein scheinen. Seitenstränge der Handlung behandeln die Themen Schach, Straßenkinder, Alkoholmissbrauch und die Verbrechen der stalinistischen Vätergeneration.

Es ist ein sehr weites Feld, das Smith aufgräbt, und es ist geradezu atemberaubend, wie er immer wieder unterirdische Querverbindungen von Thema zu Thema freilegt. Er handhabt die reich verzweigte Handlung mit kühler, virtuoser Souveränität. Ein wirklich großartiger Thriller ist dabei herausgekommen. Und dass man nach der Lektüre mehr über Russland weiß als zuvor, schadet auch nicht. KATHARINA GRANZIN

Martin Cruz Smith: „Stalins Geist“. Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt. C. Bertelsmann, München 2007, 365 Seiten, 19,90 Euro