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Archiv-Artikel

Das schmackhafteste Stück

Speckige Nacken, fettige Hähnchen, Sonnenbrillen und Dildos: In den Bildern Martin Parrs ist das Leben ein knallbuntes Theater aus Konsum und Kitsch, Verfall und Sex. Die C/O Galerie zeigt eine Werkschau des britischen Fotografen

VON PHILIPP VON BECKER

„Think of Germany“ heißen die Bilder, die den Eigenarten der Deutschen gewidmet sind. Zwei Scheiben Wurst, zwei Scheiben Schnittkäse und ein Päckchen Butter auf einem Teller. Frühstück im „Hotel Bogota“ in Berlin. Oder Buletten in brauner Soße mit Kartoffelbrei und Rosenkohl auf einem Kantinentablett. Lapidare Stillleben des ganz normalen germanischen Wahnsinns sind hier zu sehen, darunter ein Mann beim Biss in eine Bockwurst. „Essen ist ein fundamentaler Ausdruck von Zivilisation und wird viel zu selten fotografiert“, begründet Martin Parr sein Faible für Bilder von Nahrung und ihrem Verzehr.

Die C/O Galerie widmet dem 1952 in Epsom bei London geborenen Fotografen derzeit eine klug gehängte Retrospektive mit Werken aus den letzten 25 Jahren. Schon im Alter von 13, inspiriert von seinem Großvater, einem Amateurfotografen, wusste Parr, dass die Fotografie seine Berufung ist. Von 1970 bis 1973 absolvierte er ein Fotostudium in Manchester und entwickelte seine eigene Form der Sozialreportage: schonungslos und mit viel Humor. Speckige Nacken, fettige Hähnchen, Bürsten und Würste, Sonnenbrillen und Dildos, neonfarbene Törtchen, verfaulende Äpfel – in den Bildern Parrs ist das Leben ein knallbuntes Theater aus Konsum und Kitsch, Verfall und Sex. Eine tragikomische Suche nach dem schmackhaftesten Stück Fleisch, nach dem glücklichen Augenblick.

Martin Parr zeigt, was die Menschen mit den Dingen oder die Dinge mit den Menschen machen. Telefoniert das Handy mit uns oder wir mit dem Handy? Das Gewöhnliche bekommt durch den Blick Parrs und seiner Kleinbildkamera fast immer den Anstrich des Skurrilen. Parr: „Wenn die Leute beim Betrachten meiner Bilder gleichzeitig weinen und lachen, dann ist das genau die Reaktion, die die Bilder auch bei mir hervorrufen.“ Trotz Tageslicht benutzt er gerne einen Blitz, um mit der dadurch gesteigerten Farbintensität einen surrealen Effekt zu erzielen.

In grellen Farben die Absurdität des Alltäglichen sichtbar zu machen, ist zu seinem Markenzeichen geworden. Nicht nur die Deutschen kriegen ihr Fett weg. Die eindrucksvollste Serie der Ausstellung heißt „Last Resort“, stammt aus der Zeit 1983–1986 und hat den Ruhm Martin Parrs begründet. Die Aufnahmen wirken wie aus der Vorhölle, ohne dass deren Bewohner zu leiden scheinen, im Gegenteil: Sie verbringen ihre Ferien in einem heruntergekommenen Seebad in New Brighton. Weißrote Leiber, die Haut an Haut auf schmutzigem Beton in der Sonne braten. Keine Wiese, kein Baum spendet Grün. Es ist eine Betonfreizeitwüste des Proletariats. Die Menschen sonnen sich neben Baggern oder lassen am Kai die aufgeschwemmten Beine im angeschwemmten Müll baumeln.

Dagegen zeigt eine Strandserie aus Belgien von 2000/2003 gebräunte Körper, die sich mit Brillanten schmücken und Sekt trinken. Doch während die Brighton-Urlauber im Hässlichen aufgehen und beim Betrachter für ihren Gleichmut, mit dem sie es sich im Müll gemütlich machen, fast Bewunderung erzeugen, offenbaren die Bilder aus Belgien hinter den Masken des Wohlstands eine schreiende Leere. Selbstdarstellung und Verkleidung zeigen sich hier als Akt der Verzweiflung.

Parr dokumentiert solchermaßen Abgründe der Konsumkultur, doch sein Blick ist dabei nie denunziatorisch, wie ihm oft vorgeworfen wurde, was 1994 nach heftigen Kontroversen seine Aufnahme in den Olymp der Fotografengilde, die Agentur Magnum, fast verhinderte. In der Wahl seiner Motive und Bildausschnitte tritt schlicht das zu Tage, was ist. Parr zeigt es ohne Wertung und fast immer mit Liebe zu den Menschen und Freude an der Mannigfaltigkeit der Formen des Seins. Indem er unsere unschönen Seiten zeigt oder wie wir sie zu verbergen suchen, zeigt er unsere Verletzlichkeit. Daraus entsteht nicht Verachtung, sondern Sympathie für die kleinen bis großen Schwächen. It’s a small but beautiful world.

Martin Parr, C/O Galerie im Postfuhramt Oranienburger Straße/Ecke Tucholskystraße, tägl. 11–20 Uhr, bis 2. März