: Schauspiel der Geschichtsvergessenheit
In Hannover soll das Schloss Herrenhausen wieder aufgebaut werden. Die historische Rekonstruktion des Welfenschlosses wird uns mit einem weiteren Akt aus dem Schauspiel der Geschichtsvergessenheit versorgen. Ein Plädoyer für ein noch nie dagewesenes demokratisches Lustschloss
VON MAXIMILIAN PROBST
„Es ist durchaus nicht die ursprüngliche Reaktion, eine alte Schönheit schön zu finden, sondern das eingeborene und natürliche Verhalten ist, sie alt zu finden.“ Die Geschichte liefert uns eine Unzahl von Beispielen, die diesen Satz von Robert Musil stützen. Wann immer man konnte, hat man dem Neuen den Vorzug gegeben. Nachdem die Perser die alten Tempel auf der Akropolis geschleift hatten, setzten die Athener den Parthenon an die Stelle; als Michelangelo in Rom das Kapitol neu gestaltete, mussten dafür die Reste römischer Tempel weichen. War für einen Neubau nicht genügend Geld vorhanden, blieb das Lifting des Alten: Gotische Kirchen wurden mit barocken Fassaden verjüngt, barocke Schlossanlagen mit klassizistischen.
So erging es auch dem Schloss Herrenhausen in Hannover, als es Georg Ludwig Laves 1819 / 20 für das welfische Königshaus nach den Regeln der Zeit umbaute. Was er nicht wissen konnte: Er sollte der letzte sein, der aus Geschmacksgründen mit der Modernisierung des Schlosses betraut wurde und das nicht etwa, weil später, 1943, der Bombenhagel das Schloss zerstörte. Sondern weil Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Kultur entsteht, für die das Alte unantastbar wird, „die Altes verehrt, nur weil es alt ist“,wie der Historiker Philipp Blom jüngst in der Zeit konstatierte. Dass jetzt die Fassade von Schloss Herrenhausen nach Plänen der Volkswagen-Stiftung in seiner klassizistischen Form (wieso nicht wenigstens in der älteren barocken?) wiederaufgebaut wird, ist zusammen mit dem Stadtschlossprojekt in Berlin und dem bereits vollendeten Shopping-Schloss in Braunschweig ein vorläufiger Höhepunkt dieser bedenklichen Rückwärtsgewandtheit, dieses Altertumsfetischismus, der nur allzu häufig nach dem Motto „Keine Experimente“ unsere kleinbürgerlichen Ängste angesichts einer offenen, nach Gestalt rufenden Zukunft verrät.
Der Fall der Schlossrekonstruktionen ist allerdings noch um einiges verzwickter. Denn dass der Wiederaufbau in den Herrenhauser- Gärten nicht schon Jahrzehnte früher begann, dass die Braunschweiger ihr nicht zerstörtes, sondern lediglich beschädigtes Schlosses eigenhändig zerlegten, deutet auf den Fortschrittsoptimismus, der als Gegenstück den Altertumsfetischismus von Anfang an begleitet hat, und der vor allem in der Nachkriegszeit geradezu fanatische oder besser panische Züge trug. Was sich bis hinein in die 1970er Jahre in Deutschland abspielte, lässt sich auch als Flucht nach vorn unter dem Banner der Abrissbirne beschreiben.
Mangels neuer architektonischer Konzepte zog man einfach die alten der 1920er Jahre aus den Schublade – ohne zu beachten, dass die strenge, lieblose Riegelbebauung, die den Menschen nicht als historisch verwurzeltes, partikulares Individuum, sondern als Rechenziffer begriff, durch die geschichtliche Erfahrung der Totalitarismen längst diskreditiert war. Warum aber diese Flucht nach vorn? Weil im Rücken der jungen Bundesrepublik der Schrecken unsagbarer Schuld lag, und, vielleicht entscheidender, die insbesondere mit dem Bombenkrieg gemachte „Erfahrung einer nationalen Erniedrigung sondergleichen“, wie es der Schriftsteller W.G. Sebald in seiner Studie „Literatur und Bombenkrieg“ ausdrückte.
Wenn Sebalds These stimmt, dass diese traumatische Erfahrung nirgends einen angemessenen Ausdruck gefunden hat; wenn es stimmt, dass der Bombenkrieg bis heute nicht zu einer „öffentlich lesbaren Chiffre“ (Alexander Kluge) geworden ist; wenn es stimmt, dass der rasende Abriss und flüchtige Neubau der Nachkriegsjahrzehnte auch als Verdrängung nationaler Schmach, mithin als deren Wettmachung begriffen werden muss: Darf man dann die letzte markante Leerstelle der Stadt Hannover, die in ihrer Negativität sinnbildlich das Ergebnis von Deutschlands Griff nach der Weltmacht bewahrt, mit einem Machtsymbol des unseligen Vormärz zukleistern? Ist eine glanzvolle historische Fassade an diesem Ort nicht ein Versuch, die Geschichte ungesehen, ja ungeschehen zu machen?
Man müsste auch an den Grundsatz erinnern, dass im Schatten der Katastrophe nur das Ideal des Wahren gelten darf. Und was ist schon falscher als eine historisch rekonstruierte Fassade, die an modernen Innenräumen klebt? Die deutsche Sprache hält für dieses schamlose Auseinanderklaffen von Innen und Außen ein treffendes Wort bereit. Es lautet: Fratze. Und vielleicht ist es nicht überflüssig anzumerken, dass sich Deutschland in seiner Geschichte bestens auf Fratzen verstanden hat. Der Nazimythos, wie er uns in den Schriften Rosenbergs und Hitlers entgegentritt, war wesentlich die Fratze des Kleinbürgers, der sich als Herrenmensch gebärdete. Nach der Judenvernichtung sah man dann die nächste: die Fratze all derer, die behaupten, nichts davon gewusst zu haben…
Wir müssen uns darauf einstellen: Die historische Rekonstruktion des Welfenschlosses in Hannover wird uns mit einem weiteren Akt des gefeierten Schauspiel der Geschichtsvergessenheit versorgen. Dass sich ausgerechnet die auch der Geschichtswissenschaft verpflichtete VolkswagenStiftung diesen Lapsus leistet, verspricht Peinlichkeiten besonderer Art. Man könnte der Tragödie des Schlossbaus damit sogar komödiantische Seiten abgewinnen. Wir täten aber besser, die Augen davor zu schließen. Verweilen wir nicht länger in der Wirklichkeit als nötig. Vergnügen wir uns stattdessen am Bau von Luftschlössern. Bauen wir ein Schloss und zwar eines, das dem Taumel zwischen Altertumsfetischismus und Fortschrittsflucht entgeht. Erneuern wir, was am Schloss seine Größe hatte und verwerfen wir, worin sein Verhängnis lag.
Dass die klassizistische Gestaltung des Schlosses Herrenhausen unmissverständlich die nach den napoleonischen Kriegen konsolidierte fürstliche Macht und ihre Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheiten darstellte, ist die eine Seite. Zu retten wäre die andere, die Poesie des Schlossbaus: das Schloss als ein Ort der Muße, des Spiels, des Gesprächs, der in Adelskreisen ausgereiften Geselligkeit als Selbstzweck.
Was wir also im Geiste bauen sollten, ist ein Gebäude offen für alle, ohne Eintrittsgelder, ohne Konsumzwang, ohne Funktion. Ein Ort mit schattigen Nischen, in denen man rauchen kann oder sich lieben, ein Ort mit offenen Blickachsen, die einem erlauben, zu sehen und gesehen zu werden, ein Ort mit hohen Lesehallen, in denen palmwedelbeschattet das Wasser der Brunnen rauscht, mit kleinen Plätzen, von Cafés gesäumt, auf deren Tischen auch mitgebrachte Picknickskörbe stehen, ein Ort mit schalldichten Musikräumen im Innern… Ein Luftschloss eben, das noch nie dagewesene demokratische Lustschloss.