: Kinder müssen viel einstecken
betr.: Gewalt von Jugendlichen
Während ich hier sitze und an den Zeugnissen für meine Schülerinnen und Schüler schreibe, geht mir dauernd die Debatte durch den Kopf, die durch alle Medien schwirrt: Gewalt von Jugendlichen.
Ich arbeite seit 15 Jahren als Lehrerin. In all diesen Jahren ist mir noch nie ein Kind begegnet, das nicht versucht, „ein gutes Kind“ zu sein – und das oft unter widrigsten Umständen und mit großer Mühe. In allen Schulen, in denen ich gearbeitet habe, gab es aber Kolleginnen und Kollegen, die Kinder respektlos behandeln und voller Verachtung über sie sprechen. Ich wundere mich seit langem, dass Kinder und Jugendliche so viel einstecken und nicht noch viel mehr mit Wut- und Gewaltausbrüchen reagieren. Und diese Respektlosigkeit und Verachtung trifft sehr oft die „ausländischen“ Kinder, also alle, deren Muttersprache und kultureller Hintergrund sich von dem der Lehrerinnen unterscheiden.
Ich erzähle dazu mal eine Geschichte: Zum Halbjahr wird ein Junge in meine 3. Klasse zurückversetzt, um das Schuljahr zu wiederholen. Seine Eltern stammen aus dem Kosovo, er ist hier geboren. Die anderen Schüler fürchten sich schon, dass er in die Klasse kommt: Er ist älter als sie und droht in der Pause bei Konflikten oft an, dass er sie schlagen wird. Im Unterricht ist er ganz still und aufmerksam. Erst als ich ein paarmal mit ihm allein arbeiten kann, merke ich, dass er in Texten und Aufgaben viele Wörter nicht versteht. Wenn er mit mir allein arbeitet, fragt er sehr viel, genau und überlegt. In einem Aufsatz, an dem er auf seinen Wunsch noch allein eine Stunde länger gearbeitet hat, drückt er sich erstaunlich gewandt aus.
Vier Wochen später zieht seine Familie aus dem Dorf weg in die Kreisstadt. Ich schreibe ihm ein Zwischenzeugnis, in dem ich versuche deutlich zu machen, dass er mit Unterstützung sehr viel leisten kann. Nach einiger Zeit treffe ich seine neue Lehrerin in der Stadt auf der Straße. Sie ruft mir schon von weitem entgegen: „Na, dem Schätzchen haben Sie ja ein gutes Zeugnis geschrieben!“ Und erzählt mir dann voller Empörung, ihre Klasse habe gestern kariertes Papier mitbringen sollen. „Und da steht der ohne Papier und erzählt mir doch, er weiß nicht, was kariertes Papier ist!“
Dass er es einfach nicht weiß, ist für sie unvorstellbar. Dass er kein Papier mitbringt, ist ein persönlicher Affront gegen sie. Und sie kommt nicht auf die Idee, dass er sich schämt nachzufragen. In der Zeit bei mir hat er einmal das Geld für einen Ausflug nicht mitgebracht. Ich habe ihn schließlich gefragt, ob ich mal zu ihm nach Hause kommen solle. Er wollte das, ich bin mitgegangen, habe mit seiner Mutter Kaffee getrunken und sie hat mir gesagt, dass sie ihm nur 2 Euro mitgeben konnte statt 4 Euro. Dafür habe er sich so geschämt, dass er gar nichts abgeben mochte. Solche kleinen Geschichten passieren in allen Schulen jeden Tag. Für die Kinder sind sie eine ständige Ansammlung kleiner Demütigungen und Beschämungen – die sie oft auf dem Schulhof mit Drohungen oder Angriffen gegen Mitschüler wieder abreagieren. GRITTA LANGE, Northeim
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