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Archiv-Artikel

Größe tötet den Zwerg!

Das Schicksal wohnt in Brooklyn. Dort verwaltet eine Datenbank die Lebensweisheiten, die wir in Glückskeksen suchen. Eine Reise ins Archiv menschlicher Sehnsüchte

VON GINA BUCHER

Raschelnd zieht der Glückskeks am Nebentisch die Blicke auf sich. Langsam schält er sich aus seiner rotgoldenen Hülle, macht sich frei, dreht und wendet sich, um sich schutzlos der Runde auszuliefern, die ihn interessiert wie ein exotisches Objekt betrachtet. In freudiger Erwartung wird er entzweigebrochen, schwer atmend pickt sein Peiniger den Zettel aus dem Innern, als hätte er das große Los gezogen. Wer gefunden werden will, muss sich verbergen. Seine und der Menschheit Sehnsüchte sind ihm ins Gesicht geschrieben, die freudvolle Erwartung, und dann der Moment, den seine Stirn runzeln lässt: Sie bekommen ein verlockendes Angebot, handeln Sie! Ein Versprechen, das einem die Welt zu Füßen legt, wer würde da widerstehen wollen?

Die knapp formulierten Weisheiten stecken in fast geschmacklosen und doch süß schmeckenden Keksen, die ihr Dasein als Glückskeks oder Fortune Cookie fristen. Keiner mag sie wirklich, und doch ist ihnen gegönnt, was anderen fehlt: In kurzen Sätzen ordnen sie die Wünsche und Hoffnungen, die die Menschheit plagen. Rund 135 Zeichen passen auf die 58 mal 15 Zentimeter. Genügend Platz also, um komplexe Phänomene wie Liebe, Freundschaft, Reichtum oder Gesundheit kurz und knapp zu erklären, formuliert in Ratschlägen, Rätseln, Hinweisen und Prophezeiungen. It is much wiser to take advice than to give it.

Der Augenblick, der die Welt der Tischnachbarn kurz stillstehen lässt, verleitet zu einer Spurensuche nach der Faszination, die die Menschen seit Urzeiten in Atem hält. Gewünscht wird mindestens ein vager Hinweis, wenn nicht eher eine konkrete Weissagung, wo sich das Glück aufhält. Kommt Zeit, kommt Rat. Schließlich, so viel ist bekannt, ist das Glück spärlich gesät und zerrinnt schnell, zu schnell in mancher Hände. Nicht nur Glücksspieler wissen ein Lied davon zu singen. Das rare Gut, das bisher weder Wissenschaft noch Religion zu mehren wussten, will man wenigstens in kurzen Momenten genießen.

Für diese Augenblicke wird einiges in Kauf genommen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ganze Vogelschwärme wurden für Prognosen ausgenommen, der Kaffeesatz etlicher Plantagen wurde minutiös untersucht, Blinde wurden befragt und Sehende besucht. Die Vorhersage schlägt die Brücke zwischen Hoffnung und Glück, wobei das eine des andern Grundlage ist. Die Philosophie beschreibt das Prinzip Hoffnung als Antrieb, die Religion als Tugend. Dem Glückskeks bedeuten solche Spitzfindigkeiten wenig, er begnügt sich damit, den Menschen ein aufregendes Spiel mit der Hoffnung zu bieten. Jeder ist seines Glückes eigenen Schmied. Die Hoffnung, der Zukunft mit einem Glückskeks einen Schritt voraus zu sein.

Die Kekse selbst sind unspektakulär. Der Teig besteht aus Mehl, Zucker, Wasser, Lecithin und Sojaöl. Entsprechend gelten sie ganze neun Monate lang als frisch. Das Angebot beschränkt sich auf drei verschiedene Geschmacksrichtungen: Zitrone, Schokolade und Vanille. Da sie fast ausschließlich in asiatischen, vorwiegend chinesischen Geschäften und Restaurants zu finden sind, lassen die Glückskekse auf eine jahrtausendalte Tradition mit überlieferten Weisheiten aus dem alten China schließen. Legenden und Geschichten über die Ursprünge gibt es denn auch zahlreiche. Gut, dass Sie für unterschiedliche Wege offenbleiben. Ein taoistischer Priester etwa soll im 14. Jahrhundert verbotene Botschaften in Mondkuchen an den mongolischen Besatzern vorbeigeschmuggelt haben. Eine andere Legende erzählt die rührselige Liebesgeschichte einer Prinzessin, die ihren Liebsten nicht heiraten durfte und mit Hilfe der Kekse listig ihre Flucht organisierte. Sie werden von allen für Ihre Ideen bewundert.

Tatsächlich aber geht die Tradition der Glückskekse auf die Idee eines findigen chinesischen oder japanischen Emigranten in den USA Anfang des letzten Jahrhunderts zurück. Eine selbst ernannte historische Kommission behauptet zwar, der Japaner Makato Hagiwara sei der Erfinder, doch verlässliche Quellenbelege existieren bislang nicht. Besser von vielem nichts wissen, als alles besser zu wissen. Hagiwara soll um 1900 in San Francisco den ersten Glückskeks präsentiert haben. Der emigrierte Landschaftsgärtner konzipierte Ende des 19. Jahrhunderts den „Japanese Tea Garden“ in San Francisco und sah sich berufen, den Besuchern des Gartens die japanische Kultur näherzubringen. Inspiriert von japanischen Reiscrackern (Senbei), entwickelte Hagiwara den Glückskeks und verhalf ihm zu seiner Geburtsstunde. Wer Gutes tut, schläft gut. Sein Mitstreiter David Jung war Gründer der Hongkong Noodle Company in Los Angeles, und beanspruchte denselben Titel für sich. A modest person doesn’t talk about oneself. Der eingewanderte Chinese wollte den Armen und Arbeitslosen, die täglich am Fenster seines Shops zur nahen Wohlfahrtsstelle vorbeizogen, Mut mit auf den Weg geben.

Heute stammen die meisten Glückskekse aus rund hundert Fabriken in den USA, die hauptsächlich Westeuropa, Kanada und Zentralamerika beliefern. Die größte Fabrik produziert in Brooklyn täglich viereinhalb Millionen Kekse. In den 1990er Jahren scheiterte ein Versuch, die Glückskekse nach China zu importieren. Einmal kann keinmal sein, und einmal kann genug sein. Vom Erfolg der Kekse profitieren mittlerweile keineswegs nur die Amerikaner. Bis in den Kraichgau hat sich das lukrative Geschäft mit den Glückskeksen herumgesprochen. Dort produziert ein Familienbetrieb deutschlandweit am meisten Kekse: jährlich über dreißig Millionen. Sie werden ein unbeschwertes, langes Leben haben. Hauptabnehmer sind chinesische Restaurants, Einzelhandel und Werbeagenturen. Letztere ködert das Unternehmen mit dem Versprechen „maximaler Erinnerung“: „Die positive Assoziation des Glückskekses stärkt Ihr Marken-, Produkt- und Werbeimage. Ihre Botschaft bleibt länger als gewöhnlich im Gedächtnis.“ Kein Wunder, geschmacklich transportieren die Kekse ihre Botschaften kaum. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche.

Am Nebentisch leistet man dieser Forderung Gehorsam. Noch hat sich die Aufregung keineswegs gelegt, die Tischnachbarn diskutieren eifrig die Bilanz der heutigen Ausbeute. Einige sind so offen formuliert, dass die andern davon träumen. Andere so präzise formuliert, dass sie die Überraschung missen. Die meisten Botschaften scheint ein Allwissender geschrieben zu haben. Der Glaube kann Berge versetzen. Obwohl man von der großen Fabrik in Brooklyn weiß, stellt man sich gern einen ergrauten Chinesen mit langem Spitzbart und in spartanischem Gewand vor, der in einem konfuzianischen Steintempel Weisheiten einer höheren Gottheit empfängt. Seine drei Assistenten lassen sich die Botschaften diktieren und faxen sie, nach tagelangem Marsch durch die vernebelten Berge mit den grünen Bambushainen, in die Stadt, wo sie in Handarbeit auf die Papierchen gedruckt werden, die wir im Chinarestaurant aufgeregt auspacken.

Das Streben des Menschen nach Glück und Hoffnung ist letztlich die Grundlage für die Erfolgsgeschichte der Glückskekse. Du wirst durch Erfahrung profitieren. Die Geschichte der Glückskekse rückt damit in ein anderes Licht und scheint ein gutes Beispiel für die (Selbst-)Verwirklichung eines Einwanderers. Wer immer im Gestern und Morgen lebt, verschläft das Heute. Dieser Hintergrund erstaunt kaum, passt er doch perfekt zur amerikanischen Idee des pursuit of happiness.

Die Botschaften, die durch die Verbreitung der Glückskekse im Umlauf sind, spiegeln nicht nur die amerikanische Psyche der letzten hundert Jahre wider. Genauso kommentieren sie die ökonomische und kulturelle Erfolgsstory der Glückskeksproduktion respektive eines klugen Geschäftsmannes. Es wäre wohl ein leichtes, seine Biografie mit den Sätzen der Glückskekse zu schreiben. Im amerikanischen Sprachraum ist denn auch ein „Fortune Cookie“, was hierzulande der Glückspilz ist: jemand, dem viel Glück beschieden ist. Der Film „The Fortune Cookie“ von Billy Wilder (1966) erzählt die Geschichte eines solchen Glückspilzes. Und, wen wundert’s, zum Release von Wilders Film brachte die Produktionsfirma Glückskekse mit der Botschaft There’ll be a great movie in your future als Werbekampagne in Umlauf.

Die Hoffnung auf die große Rolle als Glückspilz besteht auch am Nebentisch weiter: Das dortige Massaker setzt sich fort. Ermutigt durch die Prophezeiungen der ersten Runde, bestellen die Nachbarn eine zweite, spekulieren auf weitere Chancen. Dieses Mal lächelt einer zufrieden: You are the master of every situation! bestätigt seinen lang gehegten Wunsch ebenso wie seinen Glauben an eine zentrale Schaltstelle, die schützend über sein Leben wacht und ihrem Schützling sporadisch bestätigende Signale sendet.

Dem Glückskeks entfährt ein Schmunzeln – Gott sitzt in Brooklyn! Dort sorgen ein emeritierter Professor und sein Team für den anscheinend unerschöpflichen Fluss der Weisheiten, stellen die Sätze in einer Datenbank zusammen und lassen sie von der Geschäftsleitung absegnen. Wissen ist Macht. Über die Auswahlkriterien wie auch die Zusammensetzung der Jury ist wenig bekannt, einzig Anweisungen an die Mitglie

der wie „Don’t have too complicated a mind“ oder „Think in ten-word sentences“ geben einen Eindruck von der Arbeitsweise der Jury wider. Auf diese Weise geraten kryptische Sätze wie You will never lose your raincoat again in Umlauf.

Anders als bei ihrer Konkurrenz, etwa den italienischen Baci aus Peruggia oder den düsteren Vorhersagen selbst ernannter Propheten, greift bei den Glückskeksen die Kritik, es handle sich um leere Versprechungen, zu kurz. Der Reiz der trockenen Kekse liegt gerade in den bedauernswert seltenen Leerformeln. Dieses rare Sortiment an Perlen wie Sieh nichts Böses, denk nichts Böses, und du wirst keinen Ärger haben lassen schmunzeln und erfreuen den der Logik müden Geist. Die frühen Glückskekse beinhalteten in erster Linie Sätze aus der Bibel, Zitate von Konfuzius, antiken Größen oder amerikanischer Prominenten. Die Sätze repräsentieren entsprechend Alltagsweisheiten, Aberglauben, Tugenden, Weisheiten und Ratschläge – die sich auch nicht zwingend auf einen bestimmten Kulturkreis beziehen. Your life will be easy and long. Seit den 1950er-Jahren finden Contests zur Auswahl neuer Botschaften statt, um zeitgemäßere Formulierungen zu finden und den Sätzen eine fröhlichere Note zu geben. Größe tötet den Zwerg.

In Krümeln liegen die Glückskekse auf dem Nebentisch. Die Tischrunde hat sich aufgelöst, die verheißungsvollen Sätze mitgenommen und einzig die blassen Resten dagelassen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

GINA BUCHER, 29, ist taz.mag-Hospitantin. Sie lebt im richtigen Leben in Zürich und sammelt in ihrer Freizeit das Glück der Welt